So leben Sans-Papiers in BaselDie unauffälligsten Menschen der Stadt
Sie arbeiten bei uns, aber leben neben uns – am Rand der Gesellschaft. Die Basler Sans-Papiers wollen ihre Lebensrealität nun sichtbar machen. Ein Einblick.

«Das habe ich schon oft gehört: Du hast keine Papiere, also hast du gar keine Wahl; du musst das akzeptieren; du kannst dich gar nicht wehren», erzählt Beatriz* (48). Die Brasilianerin aus São Paulo ist eine von rund 4000 Sans-Papiers im Raum Basel. Menschen, die keine Aufenthaltsbewilligung besitzen, aber trotzdem in der Schweiz leben und arbeiten. Etwa als günstige Putzkräfte, Babysitter oder in der Altenpflege. Für 15 bis 20 Franken die Stunde. «Manchmal sind es auch nur 10 Franken», sagt Beatriz, die ehemalige Lehrerin, «aber hast du keine Papiere, hast du keine Wahl.»
Sans-Papiers haben Geschichten zu erzählen, ihre ganz eigenen. Daraus soll nun ein Buch werden. «Von der Kraft des Durchhaltens» ist ein Buchprojekt, «das aus dem Bedürfnis entstanden ist, sichtbar zu werden», sagt Katharina Boerlin, Co-Leiterin der Basler Anlaufstelle für Sans-Papiers. Und: «Es ist ein Buch von Sans-Papiers über Sans-Papiers.» Jährlich suchen rund 600 von ihnen den Kontakt zur Anlaufstelle an der Rebgasse in Basel.
Neben Boerlin sitzen nun Beatriz (seit 2017 in der Schweiz) und Maria* (42, seit 2021 in der Schweiz), ebenfalls eine Brasilianerin. Die meisten Sans-Papiers im Raum Basel stammen aus Lateinamerika, einige aus Osteuropa, wie Katharina Boerlin ausführt: «Sie gehören zwar zu dieser Gesellschaft, denn sie leisten einen wichtigen Beitrag, weil sie Jobs nachgehen, die sonst keiner machen will.» Gleichzeitig täten sie alles, um nicht aufzufallen. Gemäss Boerlin sind die Sans-Papiers die «unauffälligsten Menschen der Stadt».
Die langen Tage
Ein Grund, wieso Maria aus Recife in die Schweiz gekommen ist, sei die Sicherheit. «Das Leben hier ist ganz anders», erklärt sie, «alles funktioniert, und man muss sich nicht davor fürchten, dass man auf der Strasse angeschossen oder gar erschossen wird.» Die Mutter zweier erwachsener Kinder mit einem Master in Business Administration nimmt lange Arbeitstage in Kauf. Manchmal begännen sie morgens bereits um 5 Uhr und endeten erst spätabends. Sie putze dann gleich in mehreren Haushalten. «Im Gegensatz zu Brasilien verdiene ich auch dann viel mehr, wenn ich nicht so oft arbeiten kann», sagt sie, «immerhin verdiene ich genug, dass ich meinen Kindern in Brasilien helfen kann.»
An Arbeit kämen sie vor allem dadurch, dass sie sich in Netzwerken bewegten. Die beiden Brasilianerinnen erzählen, wie sie auch von Landsleuten eine Anstellung erhielten. Manchmal von solchen, die zwar heute eine Aufenthaltsgenehmigung besässen, früher jedoch selbst als Sans-Papiers hätten überleben müssen. «Das sind oft Menschen, die unsere Situation sehr gut kennen, aber in dem Moment, in dem es darum geht, uns gerecht zu behandeln, gar nicht daran denken, uns gerecht zu bezahlen», klagt Maria an.
Ein bisschen Wohnen
Ein wenig Glück zumindest hat Maria. Sie ist bei ihrer Schwester untergekommen, die über eine Aufenthaltsbewilligung verfügt. Das heisst, sollte sie auch mal keine Arbeit haben, ist zumindest das Dach über dem Kopf gesichert und der Bauch gefüllt. Dennoch wünsche sie sich einen Ort ganz für sich, eine eigene Wohnung, um nach dem eigenen Rhythmus zu leben.
Weniger Glück hat Beatriz. Sie kann ihre Tränen nicht zurückhalten, wenn sie von ihrer Wohnsituation erzählt. Von jener Zeit, als sie eine Schlafstelle in der Nähe des Badischen Bahnhofs hatte. Abends rein und morgens wieder raus. Ein Alltag des Nichtbesitzens. Heute lebe sie in einem kleinen Zimmer mit Bad.
Obwohl es Beatriz noch nicht auf die Sonnenseite des westlichen Lebens geschafft hat, bezeichnet sie die Schweiz als ein Land, das offene Türen habe; ein Land, in dem sie sich willkommen fühle. Maria widerspricht. Die Schweiz sei kein Land, das einen «umarmt». Wäre dem so, wäre die Aufenthaltsbewilligung möglich, und sie müsste sich nicht verstecken: «Wenn ich mit jemandem unterwegs bin, in meiner Muttersprache kommuniziere und an einem Polizisten vorübergehe, höre ich auf zu sprechen, damit man meine Fremdsprache nicht bemerkt.»
Luxus oder was davon übrig geblieben ist
Ob sie sich ab und zu auch etwas Luxus gönne? Maria muss lachen. «Vielleicht mal mit einer Freundin einen Cappuccino trinken»: im Restaurant und nicht zu Hause, ein Highlight in ihrem Alltag. Mehr liege nicht drin. Doch habe sie im Moment ganz andere Sorgen. «Weil die vorherrschenden Arbeitsbedingungen nicht gerecht sind, kann ich mir beispielsweise keine Winterkleider leisten», sagt sie. Vor allem Winterschuhe würde sie sich gern kaufen, doch das knappe Geld reiche dafür nicht.
Einen ganz anderen Luxus gönnt sich Beatriz. Gelegentlich verschenke sie auf der Strasse Lebensmittel an Leute, die diese brauchen könnten. Sie spreche gern mit jenen Leuten, «denn mit anderen in Kontakt zu sein, ist das Schönste». Sie habe ungeachtet der grassierenden finanziellen Flaute Schönes erlebt in der Schweiz. Ein früherer Arbeitgeber lud sie mal zum Essen ein, mal nahm er sie mit nach Luzern. So wichtig sei Luxus nicht. Das Wichtigste für sie sei, dass sie ihre Familie in Brasilien trotz prekärem Einkommen unterstützen könne. Und natürlich das Baby, das sie bald zur Welt bringen werde.
Ein bisschen erinnert die Situation von Beatriz und Maria an jene der Saisonniers, gerade der italienischen, die nach 1948 in die Schweiz strömten. Sich in der Fremde durchbeissen und etwas nach Hause schicken von dem hart erarbeiteten Brot. Vielleicht auch mal bleiben dürfen. Irgendwann. Katharina Boerlin sagt denn auch: «Die Sans-Papiers erledigen für uns heute die ausbeuterische Arbeit der Saisonniers.» Diese neuen Saisonniers haben einen ganz eigenen Blick auf ihre Lage. Das soll auch das Buchprojekt «Von der Kraft des Durchhaltens» zeigen, das noch finanziert werden muss. «Wir sind nicht illegal», sagt Beatriz, «wir gehen durch unser Leben und haben das Recht, es zu leben – dem steht einfach der politische Wille im Weg.»
* Name von der Redaktion geändert.
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