«Die türkische Zivilgesellschaft wird erstickt»
Elf Menschenrechtlern wird in Istanbul der Prozess gemacht. Andrew Gardner ist als Amnesty-Beobachter vor Ort und schildert seine Eindrücke.

Der Präsident der türkischen Sektion von Amnesty International ist unter Auflagen aus der Haft entlassen worden. Ein Gericht in Istanbul entschied heute, Taner Kilic auf freien Fuss zu setzen. Der Menschenrechtsanwalt war im vergangenen Juni verhaftet und wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation angeklagt worden. In dem international kritisierten Gerichtsverfahren sind zehn weitere Menschenrechtler angeklagt. Die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft seien lächerlich, sagt Andrew Gardner, der den Prozess in Istanbul mitverfolgt. Der 40-jährige Aktivist von Amnesty International dokumentiert seit 2013 die Menschenrechtssituation in der Türkei.
Im Istanbuler Prozess wird dem türkischen Amnesty-Präsidenten vorgeworfen, den verschlüsselten Kurzmitteilungsdienst Bylock verwendet zu haben, den Gülen-Anhänger zur Planung des Putschversuchs von Juli 2016 benutzt haben sollen. Die Bewegung des islamischen Predigers Fetullah Güllen gilt als Terrororganisation. Kilic bestreitet die Anschuldigungen der Anklage. Seine Anwälte haben heute vor Gericht ein drittes Gutachten vorgelegt: Dieses soll zeigen, dass Kilic die Messaging-App Bylock nie auf seinem Smartphone installiert hatte. «Auch nach acht Monaten Untersuchung sind die türkischen Jusizbehörden nicht in der Lage, glaubwürdige Indizien, geschweige denn Beweise für ein kriminelles Verhalten von Kilic zu liefern», betont Gardner.
Amnesty-Mann Gardner sagt, dass die haltlosen Anschuldigungen gegen Taner nicht einzigartig seien in der heutigen Türkei. «Vielmehr werden Menschenrechtsverteidiger nach einem immer gleichen Muster ins Visier genommen.» Als Beispiel erwähnt er Osman Kavala, einen in der türkischen Zivilgesellschaft angesehenen Geschäftsmann und Philanthrop, der im vergangenen Oktober festgenommen wurde.
Menschenrechtler sollen schweigen
Die Botschaft der Erdogan-Regierung ist klar: «Wer sich aktiv und wirksam für die Menschenrechte einsetzt, der wird einen hohen Preis zahlen», sagt Gardner. «Die gezielte Verfolgung prominenter Menschenrechtler dient dazu, die von ihnen vertretenen Gemeinschaften zu erschrecken und zum Schweigen zu bringen.» Für eine Festnahme genügt auch eine angebliche Nähe zur Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), die von der türkischen Regierung als Terrororganisation eingestuft wird.
Gardner warnt, dass mit der anhaltenden Säuberungswelle nach dem Putschversuch «die türkische Zivilgesellschaft erstickt wird». Und er betont: «Heute brauchen wir Menschen wie Kilic dringender denn je.» Kilic sei nicht nur ein erfolgreicher Anwalt, sondern auch ein leidenschaftlicher Fürsprecher für die Rechte von Flüchtlingen – «eine fantastische Kombination für einen Menschenrechtsverteidiger».
Nächster Gerichtstermin am 21. Juni
Die heutige Haftentlassung von Kilic ist in Menschenrechtskreisen freudig aufgenommen worden. Amnestys Europadirektorin Gauri van Gulik sagte, es sei eine «grosse Erleichterung», dass der Menschenrechtsanwalt nach fast acht Monaten im Gefängnis nun zu seiner Familie zurückkehren könne. Amnesty werde den Kampf jedoch fortsetzen, um einen Freispruch von Kilic und den «Istanbul 10» zu erreichen. Die anderen Angeklagten waren bereits in den letzten Monaten freigekommen.
Der Istanbuler Prozess ist bei der heutigen Anhörung auf den 21. Juni vertagt worden. Den elf Menschenrechtsaktivisten drohen Haftstrafen von bis zu 15 Jahren.
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