Die Sonderkommandos des Pop
Es war wieder Kilbi in Bad Bonn. Die Sinne sind noch durcheinander, Ohren und Seele flattern. Besuch eines Festivals, an dem nicht der mit den meisten Fans gewinnt, sondern der mit den besten Ideen.
Man hat ja schon so einiges gehört und gesehen, an diesem Festival auf den Wiesen zu Bad Bonn. In diesem Jahr zum Beispiel einen Fagott spielenden deutschen Elektrohippie, einen Schamanen mit Handy-Fetisch, ja sogar mittelprächtige Freiburger Travestiekunst. Aber ein Sänger, der eine Schreibmaschine bedient und damit das Publikum in schwitzige Ekstase versetzt, das ist selbst für die Bad-Bonn-Kilbi – diesem Tummelplatz für die Sonderkommandos der Popmusik – ziemlich apart.
Der Mann heisst Makara Bianko, stammt aus Kinshasa und ist der Vorsteher der Gruppe Kokoko!. Ein Projekt, das es nach traditionellen musikmarkttechnischen Kriterien eigentlich noch gar nicht gibt – kein Album, keinen grossen Konzert-Palmarès – doch nach diesem Auftritt in Düdingen ist klar, dass da etwas ganz und gar Sagenhaftes auf die Welt zurollt. Die Instrumente haben sie selbst designt und gebaut, einsaitige Bassgeneratoren aus der Altmetallsammlung, ein Schlagzeug aus Blechbüchsen und Holzkisten, Gitarren aus seltsamen Gestängen oder eben eine zum manuellen Schlagzeugapparat aufgepimpte Schreibmaschine. Das alles schnarrt und quärrt im polyrhythmischen Breakbeat, dazu mengt der in Brüssel lebende Franzose Debruit ebenso schnarrende Beats und knusprige Rudimentär-Elektronik ins Geschehen, und Makaras Komplizen schreien afrikanische Chorgesänge in mutwillig übersteuerte chinesische Mikrofone.
Alles treibt vorwärts, alles klingt modern, subversiv, anarchisch, ungehobelt und doch auf wunderliche Weise heiter. Kokoko! machen keine Weltmusik zur Befriedigung eines europäischen Exotismus-Bedarfs, es ist die triftige Clubmusik aus den Ghettos einer Stadt, in welcher der Tumult zum Alltag gehört. Handelsübliche Preset-Sounds aus der 1. Welt findet man hier nicht, Kokoko! bosseln sich aus der heutigen afrikanischen Tanzmusik und aus dem musikalischen Fundus der über 450 verschiedenen Tribes ihres Heimatlands Kongo eine frenetische neue schwarze Musik zusammen.
Eine halbe Stunde nach dem Konzert erzählen Debruit, Makara und der Instrumentenerfinder Boms von ihrem Wirken in Kinshasa. Kokoko! sei ein riesiges, multiethnisches Künstlerkollektiv, bestehend aus Performance-Artisten, Tänzern, Instrumentenbauern, visuellen Künstlern und Sapeurs, einer Art afrikanischer Ghetto-Dandys. Vereint sind sie in der Überzeugung, dass die Kunst die beste Waffe sei, gegen die misslichen Lebensbedingungen auf ihrem Kontinent und gegen die privilegierte musikalische Elite ihres Landes anzukämpfen. Politische Statements wird man von Kokoko! nicht hören, viel zu gefährlich für Bewohner eines Landes, das wegen seines Demokratieverständnisses zu den gescheiterten Staaten Afrikas gezählt wird. Mitte Juni wird die Band die ersten zwei Stücke ihres bereits aufgenommenen Albums veröffentlichen. Das Ziel: dass nach nigerianischer und angolanischer Musik in den Clubs der Welt bald auch zu kongolesischer Musik getanzt werde. Das Ziel wird mühelos zu erreichen sein.
Firlefanz und Schabernack
Kokoko! ist nur eine von einigen musikalischen Offenbarungen, die es an der Kilbi 2017 zu erleben gab. Selbst die bestinformierten Indie-Connaisseure und die fleissigsten «Spex»-Leser sind stets von Neuem erstaunt über die künstlerischen Kapriolen, die hier im Senslerland angerichtet werden, was damit zusammenhängt, dass der musikalische Horizont des Organisators Daniel Fontana sich laufend erweitert und in immer entlegenere Ecken der Welt vorstösst.
Eine nette Tradition ist es, eine kleine Delegation von Borderline-Japanern nach Düdingen zu laden. Sie ist dieses Jahr ausnahmslos weiblich und ihre musikalischen Darbringungen ausnahmslos gewöhnungsbedürftig: Während das Duo Afrorampo noch mit erfinderischem Naiv-No-Wave-Punk bezirzt, wird das Originalitätsbestreben des Frauenquartetts Ooioo auf die Dauer eher zur nervlichen Belastung, obzwar ihr Avantgarde-Experimental-Rock mit hübschen Ideen gespickt wäre.
Kurz zuvor ist eine Gruppe zu bestaunen gewesen, welche das Genre ebendieses Avantgarde-Experimental-Rocks Ende der Siebzigerjahre entscheidend mitgeprägt hat. This Heat, die Band, die seit ihrem Revival This Is Not This Heat heisst, präsentiert ein dramaturgisch raffiniert komponiertes Set zwischen Noise-Improvisationen, Pre-Punk, Musikhochschul-Schlaumeiereien und Momenten schierer poetischer Schönheit. Und irgendwann gesellt sich zu all den akustischen Irritationen auch noch eine visuelle. Das Konzert des Duos N. M. O. hat gerade begonnen, was sich dadurch manifestiert, dass ein rigoroses Strommusik-Stakkato aus den Boxen stottert. Doch zu sehen ist bloss ein beachtliches Bühnennebel-Aufkommen. Erst nach circa zehn Minuten wird der Chronist gewahr, dass sich das Konzert mitten im Publikum abspielt, ein Publikum, das bald enthusiasmiert um die Zweierschaft herumhüpft. N. M. O. prügeln den Techno in ihrem verherrlichungswürdigen Set mittels Primitiv-Schlagzeug und Mobilcomputer zu dem zurück, was er einst war: ein Spiel mit Frequenzen und Beats, ohne melodiöse Verzierungen, ohne Trance-Sound-Bibliotheken und sonstigen Firlefanz.
Dass man es mit dem Verzicht auf Firlefanz indes auch übertreiben kann, beweist die amerikanische Rapperin Princess Nokia. Sie beschränkt sich darauf, Teile ihrer CD mitsamt aller Vocals abspielen zu lassen, und sprechsingt jene Zeilen mit, die ihr wohl gerade erinnerlich sind. Und die als Verfechterin eines neuen feministischen Selbstbewusstseins angereiste Amerikanerin macht auch gleich in ihrer ersten Wortmeldung ans Publikum klar, dass sie in ihrer Position als «woman of color» in einem «white place» keinesfalls mit Bier beworfen werden wolle, ansonsten sie ihr Konzert sofort abbrechen werde. Ein «Konzert», das nach einer ereignisarmen halben Stunde auch ohne Bierwurf schon vorbei ist und entsprechend bald aus dem Mittelzeitgedächtnis ausklingt.
Dort haften bleibt hingegen der bewusstseinserweiternde Auftritt der australischen Gruppe King Gizzard and the Lizard Wizard, der wohl ertragfähigsten Band der Stunde, die für 2017 gleich fünf Alben angekündigt und in den letzten Monaten schon ein bravouröses Tonwerk nach dem anderen in die Welt entlassen hat. Bravourös ist auch ihr Festivalbeitrag: Was er bietet, ist gleissend-psychedelischer, hippiesker Art-Punk-Blues – rhythmisch und melodiös hochkomplex und fürs Festivalgänger-Seelenwohl hoch erfreulich. Dargebracht wird das Ganze mit einem Rockinstrumentarium, das dahingehend modifiziert wurde, dass damit auch fernöstliche Mikrotonalitäten zu bewerkstelligen sind.
Angenehme Ungereimtheiten
Keine solchen Eingriffe benötigt die Laute des griechischen Musikers George Xyouris. Zusammen mit dem Schlagzeuger Jim White, der schon für PJ Harvey oder Catpower in die Trommeln gehauen hat, zettelt er ein hellenisches Post-Punk Donnerwetter mit eingestreuten kontemplativen Impro-Interventionen an. Eine durchweg schöne Sache. Ein grossartiges Donnerwetter gibt es auch von der Gruppe Sleep. Sie ist eine Art Antithese zu den schaffigen King Gizzard and the Lizard Wizard, hat sie doch in den 27 Jahren ihres Bestehens bloss drei reguläre Studioalben zustande gebracht, die indes zu den Pionierarbeiten des Stonerrocks gezählt werden. Und genau das zelebriert das Trio denn auch in Düdingen: einen wuchtigen, sich den Luxus der Langsamkeit gönnenden Hippie-Doom-Metal mit unüberhörbaren Anleihen bei Black Sabbath. Das Publikum taumelt eine wohltuende Stunde lang in einem Schwall tiefergelegter Stromgitarren. Eine Stromgitarre – allerdings mit sonderbaren Effekten belegt – haben auch Idris Ackamoor & the Pyramids in ihren Reihen. Dazu gibt es atonale Flöten, afrofuturistischen Free Jazz, güldene Pharaonengewänder und aller Gattig andere Dinge, mit denen man den weissen Mann irritieren kann. Idris Ackamoor hat in den frühen 70ern den Afrobeat in den USA ruchbar gemacht, ist dann aber von der Bild- und Tonfläche verschwunden, wurde Buchhalter und hat seine Pyramids erst vor fünf Jahren wiederbelebt. Ein guter Entscheid. Sein verspiegelter Afrojazz ist auch heute noch von angenehmer Ungereimtheit.
Und was war da noch? Angel Olsen, momentan eine der beliebtesten Sirenen der Indie-Bewegung, macht Seelenmusik für den feuerroten Plüschsessel zum feuerroten Sonnenuntergang – aber mit zappendusterer Gemütslage. Wie sie aus dem Einlull-Modus heraus der Welt den Stinkefinger zeigt, hat schon was. Allerdings vermag sie einen schleichenden Spannungsabfall in ihrem Set nicht zu verhindern. Dafür gewinnt sie den Preis für den hübschesten Merchandising-Artikel. Auf einem ihrer T-Shirts steht ihr Songtitel «Unfuck The World» – was für ein prima Motto für eine derzeit gar nicht so einwandfreie Welt!
Und: Der Radiohead-Cellist Oliver Coates langweilt mit gleichzeitig unaufgeregtem und unaufregendem Schöngeist-Trance, während Anna Meredith mit ihrem Gemenge aus elektronischer Minimal-Music, Art-Rock-Sauereien und orchestralem Bombast für angenehme Verwirrung sorgt. Der finstere Ragga-Mann Gaika entpuppt sich als bedauerliches Auto-Tune-Fashion-Victim, während die Stahlberger-Begleitband Lord Kesseli & the Drums demonstriert, wie man ein ganzes Open-Air-Festgelände mit Raucherstäbchen-Odeur eindecken kann. Ihre Musik: eine Art Stadion-Eso-Emo. Musik von monumentaler Erhabenheit und niederschmetternder Traurigkeit. Und ein Festival, das all dies, ohne mit der Wimper zu zucken, zulässt? Es gehört so was von geadelt und gelobt.
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