Die sinkende Zuwanderung setzt der AHV zu
Die AHV-Finanzierungslücke fiel 2017 grösser aus als erwartet, weil weniger Einwanderer kamen. Doch der Bund will seine Prognosen nicht korrigieren.

Für die AHV sind die vielen Einwanderer der letzten Jahre ein Segen. Auch wenn diese später einmal eine Rente beziehen werden, helfen sie heute in einer kritischen Phase, die AHV zu sichern. Deshalb ist es für das wichtigste Sozialwerk eine schlechte Nachricht, dass 2017 weniger Einwanderer kamen als erwartet. Die AHV-Finanzperspektiven des Bundes gehen davon aus, dass im Durchschnitt netto 60'000 Personen pro Jahr zuziehen (Einwanderer minus Auswanderer). Doch 2017 betrug der Wanderungssaldo nur 51'400 Personen, wie das Bundesamt für Statistik (BFS) gestern meldete.
Dies trug laut Fachleuten viel dazu bei, dass die AHV 2017 weniger einnahm als erwartet. Insgesamt lagen ihre Einnahmen 370 Millionen Franken unter den Annahmen. Die Abweichung war hier viel grösser als bei den Ausgaben, wie die kürzlich veröffentlichten Zahlen zum Jahresabschluss 2017 zeigen. Auch die wichtigste AHV-Kennzahl – das Umlageergebnis – fiel schlechter aus als geplant: Das Minus lag bei 1 statt 0,7 Milliarden Franken. Dabei handelt es sich um das Ergebnis ohne Kapitalrendite, mithin die Finanzierungslücke der AHV.
Hohe Zuwanderung bis 2030?
Die grosse Frage ist nun, wie der Bund reagieren soll. Der Zeitpunkt ist brisant, weil der Bundesrat im Sommer eine neue AHV-Reform in die Vernehmlassung gibt. Er will die Mehrwertsteuer stark erhöhen – um bis zu 1,7 Prozent – und das Rentenalter der Frauen auf 65 anheben. Wie hoch die Steuererhöhung ausfällt, hängt ganz von der AHV-Finanzplanung ab. Deshalb ist es entscheidend, welche Annahmen der Bund zum Beispiel bei der Zuwanderung trifft.
Seit 2014 ist der Wanderungssaldo kontinuierlich gesunken. In den ersten Monaten 2018 fielen die Zahlen erneut tiefer aus als im Vorjahr. Trotzdem will das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV), das für die AHV-Perspektiven zuständig ist, an den aktuellen Annahmen festhalten. Diese orientieren sich am Bevölkerungsszenario des BFS von 2015. Erwartet wird weiterhin ein Wanderungssaldo von 60'000 Personen im Jahr, und zwar bis 2030. Danach soll er bis 2040 auf 30'000 sinken.

Aus Sicht des BSV ist das realistisch. Das Amt hält jedenfalls fest, es teile die Vermutung nicht, dass die Migration zu hoch eingeschätzt sei. Und so wird auch weiterhin mit den heutigen Annahmen kalkuliert, bis das BFS 2020 ein neues Szenario präsentiert. Das BSV wäre frei, schon vorher Veränderungen vorzunehmen. Ende 2010 hat es beim BFS schon einmal eigens ein separates Szenario mit neuen Zuwanderungszahlen in Auftrag gegeben, da sich zeigte, dass die angenommenen zu tief waren.
Denn Abweichungen bei der Migration fallen bei der AHV ins Gewicht. In einem Bericht von 2013 rechnet der Bundesrat vor, wie sich verschiedene Szenarien bei der Zuwanderung, der Lohn- und der Wirtschaftsentwicklung auswirken. Laut den damaligen Zahlen beträgt die Finanzierungslücke 2030 im tiefen Szenario circa 11 Milliarden Franken, im hohen «nur» 6 Milliarden. Die enorme Differenz ist primär auf die Zuwanderung zurückzuführen, wie es im Bericht heisst. Sie betrug im tiefen Szenario 30'000, im hohen 50'000.
Im Zweifel für die Vorsicht
Diese Zahlen zeigen, wie relevant die Annahmen zur Migration sind. Deshalb fordern bürgerliche Sozialpolitiker Korrekturen, damit das Parlament eine realistische Reform beschliessen kann. FDP-Nationalrat Bruno Pezzatti (ZG) sagt, das BSV solle die Zahlen an die neuste Entwicklung anpassen und somit senken. «Es ist wichtig, dass wir für die Planung der AHV-Reform auf der sicheren Seite stehen und eher vorsichtige Annahmen treffen.»
Daniel Lampart, Chefökonom des Gewerkschaftsbunds, findet hingegen, die Migrationszahlen seien immer noch im Bereich der Erwartungen. Er weist auch darauf hin, dass es eventuell auch bei anderen Faktoren Korrekturbedarf gebe, etwa der Lebenserwartung oder dem Produktivitätswachstum. Allerdings bestreitet auch Lampart nicht, dass 2017 die Einnahmen unerwartet tief waren. Vorübergehende Abweichungen seien immer möglich, sagt er. Woran das lag, lasse sich erst sagen, wenn die Detailzahlen vorlägen.
Die Vorzeichen ändern sich
Der Streit um die AHV-Prognosen ist nicht neu, aber die Vorzeichen ändern sich. Früher wehrte sich die Linke gegen Schwarzmalerei – heute kämpfen Bürgerliche gegen zu rosige Annahmen. Dahinter stehen handfeste Interessen. So unterstützt FDP-Vertreter Pezzatti den Vorschlag des Arbeitgeberverbands, jetzt eine Reform aufzugleisen, die rasch wirke und die AHV kurzfristig bis Mitte der 2020er-Jahre sichert. Dies begründet er auch mit den unsicheren Prognosen. Diese sprächen gegen den Plan des Bundesrats, die AHV über 2030 hinaus finanziell abzusichern.
Und wie soll der zweite Reformschritt aussehen, der etwa 2025 greifen müsste? Die Arbeitgeber wollen dann schrittweise und planbar das Rentenalter über 65 hinaus erhöhen. Pezzatti unterstützt das, nennt aber als Alternative stärkere Anreize für freiwillige Weiterarbeit im Alter. Er geht davon aus, dass später auch der Bundesrat auf diesen Weg einschwenkt. «Ich erwarte, dass die Mehrheit im Bundesrat noch einsehen wird, wie unrealistisch die geplante massive Erhöhung der Mehrwertsteuer ist.»
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