Die sich vor der Sonne fürchten müssen
Wer an der Lichtkrankheit leidet, findet nicht einmal im Schatten Schutz. Der Alltag wird zum Spiessrutenlauf.

Sonne ist der schlimmste Feind in Enyas Alltag. Ein Picknick auf der Sommersonnenwiese, der Nachmittag im Schwimmbad oder die Abfahrt im weissen Pulverschnee – all diese Dinge, die Vergnügen bereiten und das Herz mit Freude erfüllen, haben für die 12-Jährige drastische Konsequenzen: Ihre Haut brennt von innen heraus wie Feuer, so schlimm, dass sie sich nur noch im Zimmer verkriechen kann, und abwarten muss, bis dieser höllische Schmerz abebbt. Und das kann, je nach Intensität, bis zu 72 Stunden dauern. Enya leidet an Erythropoetischer Protoporphyrie (EPP), einem sehr seltenen genetischen Defekt, der eine schmerzhafte Lichtempfindlichkeit auslöst.
Bis diese Diagnose gestellt wurde, verstrich viel Zeit. Jahre, in denen das Mädchen von den Ärzten als Simulantin und die Eltern als hysterisch betitelt wurden. Jahre, in denen die gesamte Familie litt, weil sie Enyas Schmerzen mitansehen mussten und ihr nicht helfen konnten. Akzeptieren mussten, dass sie sich abkapselt und sich mit ihren Qualen immer mehr zurückzieht.
Neun Jahre ist das nun her. «Als Enya drei Jahre alt war, fuhren wir in den Sommerferien nach Süditalien auf den Zeltplatz», erinnert sich ihre Mutter, Anouschka Zorzetti, als wir sie zum Gespräch treffen. «Wir haben uns sehr gefreut auf die gemeinsame Zeit. Doch bereits ab dem zweiten Tag wollte die Kleine das Zelt nicht mehr verlassen. Sie sass da drin und wedelte fast pausenlos mit ihren Händen in der Luft. Mein Mann und ich verstanden überhaupt nicht, was mit ihr los war.»
Wanderung von Arzt zu Arzt
Die Versuche, sie zu überreden, im Meer oder im Swimmingpool baden zu gehen oder sich im Freien aufzuhalten, scheiterten. «Dies, obwohl ihr das zuvor jeweils grossen Spass bereitet hat», sagt Zorzetti. «Wenn sie raus ging, dann blieb sie nur kurz im Schatten stehen und verschwand dann wieder im Schutz des Zelts.» Als ihre Hände in der zweiten Woche etwas dicker anschwollen, gingen die Eltern mit ihr auf die Notaufnahme. Dort gab man der Dreijährigen eine Kortisonspritze und sagte, dass sie wohl eine Sonnenallergie habe. Zurück in Basel suchte die Mutter sofort den Hausarzt auf. «Dieser stützte die These des Arztes in Italien und meinte, wir sollen die Kleine mit Kortison behandeln, dann werde alles gut.»
Als die fünfköpfige Familie im folgenden Winter zum Skifahren fuhr, wiederholte sich das Szenario: Während ihre beiden Geschwister Spass im Schnee hatten, wollte Enya nur im Zimmer bleiben. Denn bereits nach wenigen Tagen auf der Skipiste brannte ihr Gesicht und wies rote Stellen auf. Die unerträglichen Schmerzen konnte auch das verordnete Kortison nicht lindern.
Was dann begann, war eine regelrechte Ärztewanderung, wie die Mutter sagt. «Wir rannten von Pontius zu Pilatus, doch niemand konnte uns weiterhelfen.» In ihrer Verzweiflung begann sie damit, eine Fotodokumentation über ihr Kind zu führen, die sie den verschiedensten Fachpersonen zeigte. «Nach dem dritten Sommer wurde anhand eines Bluttests dann endlich erkannt, dass Enya an EPP leidet.»
Dieses Wissen habe eine gewisse Erleichterung gebracht. «Wirkliche Informationen bekamen wir jedoch nicht. Der Arzt sagte, mit Beta Karotin, einem hohen Lichtschutzfaktor und einer UV-Sensibilisierung zu einem späteren Zeitpunkt sei es möglich, Enyas Zustand langfristig zu stabilisieren.»
Vermummen oder daheim bleiben
Dass dies so nicht stimmt, weiss Rocco Falchetto, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Porphyrie (Stoffwechselerkrankungen) nur zu gut. Er selbst leidet nämlich auch seit seiner Kindheit an EPP. «Die Empfehlung einer Lichttherapie ist mit grosser Vorsicht zu geniessen», sagt er. Ist der blaue Lichtanteil zu gross, kann das bereits wieder Symptome provozieren.» Einzig reines UV-Licht würde die phototoxische Reaktion nicht auslösen. Um den schrecklichen Schmerzen zu entkommen, hat der 52-Jährige vieles ausprobiert – unter anderem eben auch eine Lichttherapie. «Das hat mich zwar kurzfristig etwas abgehärtet, genügte jedoch nie für einen längeren Aufenthalt im Freien.»

Menschen mit EPP – von ihnen gibt es etwa siebzig in der Schweiz – müssen ihren Alltag exakt planen. Für sie ist alles Neue unberechenbar. So ist die Wetter-App beispielsweise Falchettos ständiger Begleiter. «Man nennt uns auch die Schattenspringer», sagt er. Doch Schatten alleine reicht als Schutzmassnahme nicht aus, da auch dort indirektes Licht durchscheint.
Nicht selten vermummen sich Betroffene komplett, wenn sie an einem sonnigen Tag nach draussen müssen, oder schliessen sich zu Hause ein. «In der verzweifelten Hoffnung auf ein kleines bisschen Normalität riskiert man hin und wieder Situationen, in denen man sich dem Licht aussetzt. Und dies trotz dem Wissen, dass man mit höllischen Schmerzen – und im Extremfall mit blutunterlaufenen und violett verfärbten Stellen, wo sich die Haut ablöst – dafür bezahlt. Solche Erlebnisse kenne ich nur zu gut», sagt Falchetto.
Der kleine Funke Hoffnung stirbt jeweils rasch, wenn sich die ersten Symptome bemerkbar machen. «Ab diesem Moment geht es rasant. Das Einzige, was dann noch hilft, ist, alles abzudunkeln, sich wie ein verletztes Tier in einem Raum zu verstecken und zu warten, bis die Schmerzen abklingen.» Schlafen sei das Einzige, was in diesem Zustand ein wenig helfen würde. Die unaushaltbaren Schmerzen, die Falchetto «mit einem ganz starken Sonnenbrand, der die Adern und das Gewebe von innen her verbrennt» vergleicht, machen dies jedoch unmöglich. «Wenn es dich erwischt, liegst du zwei bis drei Tage und Nächte einfach da und der gesamte Lebenssaft scheint aus dem Körper herausgesogen.»
Zwischen Normalität und Isolation
Der Wunsch nach Normalität macht sich auch bei Anouschka Zorzettis Tochter, die nun 12 Jahre alt ist, stärker bemerkbar. «Früher habe ich ihr extra lange Kleider genäht und ihr lange Spitzenhandschuhe gekauft, um ihren Körper zu schützen. Nun will sie wie alle anderen in kurzen Hosen und einem bauchfreien Shirt herumlaufen», sagt Zorzetti. Erst kürzlich habe Enya am zweitägigen Sporttag der Schule, der auf einer freien Wiese stattfand, teilgenommen. Danach sei sie, von Schmerzen geplagt, zwei Tage weinend im Zimmer gesessen. «Das war so schlimm mitanzusehen.»
Mit Sorgen beobachtet sie auch, dass ihre Tochter sich vermehrt isoliert, weil sie nicht wie andere in ihrem Alter im Sommer ins Schwimmbad gehen oder nur begrenzt an Gruppenaktivitäten im Freien mitmachen kann. «Wir bemühen uns trotzdem um eine abwechslungsreiche Freizeitgestaltung – tagsüber halt meist in Innenräumen oder abends nach dem Sonnenuntergang dann draussen.»
In den Sommerferien habe sie deswegen eine lange und sehr enttäuschende Unterredung mit der Mutter einer Klassenfreundin gehabt. «Sie wollte partout, dass die zwei Freundinnen über die Mittagszeit, trotz intensiver Sonneneinstrahlung, draussen spielen. Ich schlug diverse Alternativen vor, doch die Mutter lehnte diese vehement ab. Obwohl sie, laut eigenen Aussagen, über EPP sehr genau Bescheid weiss, sagte sie zum Schluss, dass ihre Tochter ja nicht krank sei und sie nicht einsehe, dass sie auf mein Kind Rücksicht nehmen müsse. Das war wie ein Schlag ins Gesicht. Ich war komplett sprachlos über dieses Unverständnis und diese unglaubliche Ignoranz.»
Isolation, Einschränkungen und eine latente Anspannung begleitet Menschen mit EPP immerzu. «Die Angst vor der Sonne und dem Licht ist bei uns tief verwurzelt und beherrscht jedes Handeln im Alltag. Das ist wie ein Trauma, das nicht ausheilt», sagt Falchetto. Zudem müssen Betroffene regelmässig Lebensträume und Ideen begraben. So auch bei der Berufswahl und bei der Arbeitssuche. «Mein Wunsch wäre gewesen, in Afrika als Zoologe zu arbeiten. Daraus wurde natürlich nichts.»
Ins Schwimmbad wie alle anderen
In Australien wird seit einigen Jahren das Medikament Scenesse hergestellt. Der Wirkstoff ist eine synthetische Variante eines Hormons namens Alpha-MSH, das im Körper die Hautbräunung anregt. Falchetto nimmt dieses Implantat, das alle zwei Monate erneuert werden muss, seit einigen Jahren. «Als ich das Medikament zum ersten Mal bekam und danach an die Sonne musste, hatte ich grosse Angst», erinnert er sich. Nach aufreibenden zehn Minuten habe er bemerkt, dass sich an seiner Haut nichts verändere. Nach dreissig Minuten hätten sich noch immer keine Symptome gezeigt. «Da war ich komplett überwältigt davon, dass der Wirkstoff wohl tatsächlich funktioniert.» Kurz darauf sei er zum ersten Mal im Leben ins Schwimmbad und habe sich danach 15 Minuten an der Sonne getrocknet. «Ich hätte nie gedacht, dass Sonne für mich irgendwann nicht nur Schmerz bedeutet, sondern wärmend und wohltuend ist. Das war wie eine Befreiung aus dem Gefängnis der Krankheit.»
Das Medikament bedeutet keine Heilung für EPP-Menschen, wirkt jedoch als Therapie. Die Europäische Arzneimittelbehörde hat Scenesse 2014 für die Behandlung erwachsener EPP-Patienten zugelassen, in der Schweiz ist dies noch nicht der Fall. Das bedeutet laut Falchetto einen ständigen Kampf mit den Krankenkassen. «Ich hoffe so fest», sagt Anouschka Zorzetti, «dass dieser Kampf bald zu Ende ist und Enya, wenn sie 18 Jahre alt ist, auch von der Therapie profitieren kann.» Nach einem kurzen Augenblick fügt sie an: «Vielleicht kann sie dann endlich ein fast normales Leben führen.»
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