Die schweigende Hälfte
In Polen stehen sich zwei politische Lager sprachlos und unversöhnlich gegenüber. Unterredungen in Warschau.

Die Kontaktaufnahme scheitert. Ich möge doch am Dienstag oder Mittwoch nachmittags in den Sejm kommen, sagt mir der Pressesprecher von Recht und Gerechtigkeit (PiS) am Telefon. Dort, in der Lobby des polnischen Parlaments, könne ich mit Abgeordneten der Regierungspartei reden. «Nein, das geht so nicht, um den Sejm betreten zu dürfen, brauchen Sie die Einladung eines Abgeordneten», erklärt mir eine Vertreterin der Parlamentsdienste per E-Mail, als ich mich anmelden will.
Also rufe ich noch einmal in der PiS-Zentrale an, wo man mir die Telefonnummern von zwei Abgeordneten gibt. Einmal, zweimal, dreimal, achtmal versuche ich Elzbieta Witek und Krzysztof Lapinski zu erreichen, spreche auf Bänder, schreibe E-Mails. Es führt zu nichts: Offenbar wollen die PiS-Politiker nicht mit mir reden; ja sie wollen mir nicht einmal sagen, dass sie nicht mit mir reden wollen. Polens rechte Regierungspartei steht im In- und Ausland in der Kritik – und überlässt die Deutungshoheit kampflos ihren Gegnern.
Nüchtern, aber nicht objektiv
Solche oder ähnliche Geschichten habe er schon von mehreren ausländischen Journalisten gehört, berichtet Konrad Niklewicz, der mich wenige Hundert Meter vom Sejm entfernt in einem schmucklosen Büro empfängt. Niklewicz (40) arbeitet für die Bürgerplattform (PO), die liberal-konservative Partei, die Polen acht Jahre lang regiert hatte, bevor die PiS im Oktober die Parlamentswahlen gewann. Ein Mann in Anzug und Krawatte, vermittelt Niklewicz den Eindruck grösster Nüchternheit und Seriosität. «Ich bin nicht objektiv», sagt er als Erstes.
Tatsächlich erweist er sich als scharfer Kritiker von Präsident Andrzej Duda und Ministerpräsidentin Beata Szydlo: «Die Regierung und der Präsident brechen die Verfassung.» Sie wollten die Institutionen des Rechtsstaats aus dem Weg räumen, sagt Niklewicz und erinnert an den Auslöser des derzeitigen Konflikts: Seit dem Regierungswechsel im Oktober weigert sich Präsident Duda, die Ernennung von fünf Richtern des Verfassungsgerichts zu bestätigen, die noch von der alten Regierung gewählt worden sind.
Polen boomte in der letzten Dekade, zumindest war dies in den Zeitungen zu lesen, und ein Augenschein in Warschau, wo an jeder Ecke gebaut oder renoviert wird, scheint das zu bestätigen. Warum eigentlich wurde die PO-Regierung überhaupt abgewählt?, frage ich Niklewicz. «Es ist einfacher, Autobahnen zu bauen, als den Lebensstandard oder die Löhne anzuheben», erklärt sich dieser die Niederlage seiner Parteikollegen.
Etwas mehr als 500 Franken betrage der Mindestlohn im Land, nicht viel, zumal, wenn man bedenke, dass die meisten Polen mittlerweile Westeuropa aus eigener Anschauung kennen würden und vergleichen könnten. Erstwähler hätten mehrheitlich für PiS gestimmt; «Wechsel» sei das wichtigste Wort in deren Wahlkampf gewesen.
Hinzu kam die Flüchtlingskrise, laut Niklewicz «einer der Nägel im Sarg der PO». Nicht ein einziger Syrer solle kommen, hätten manche Polen gefordert. Für die Ängste der Bevölkerung hat PO-Mann Niklewicz kein Verständnis: «Es herrscht hier ein Mangel an Wissen, die denken, es kämen Islamisten. Bullshit!», ruft er aus – mit einer Vehemenz, die keinen Widerspruch duldet. Dass unter anderem auch ein Mangel an Verständnis für die Sorgen der Bürger die PO die Macht gekostet haben könnte, will ihm nicht einleuchten.
In der Welt des Geistes
Adam Krzeminski (70) ist seit Jahrzehnten schon einer der führenden Polen-Erklärer im deutschen Sprachraum. Ein Mann, der ein feines Deutsch spricht und gekleidet ist wie einer, der sich um Äusserlichkeiten nicht kümmert. So stellen sich Westeuropäer einen osteuropäischen Intellektuellen vor: materiell genügsam, ganz in der Welt des Geistes lebend.
Die Redaktion von Polityka, wo Krzeminski arbeitet, scheint ein Tummelplatz älterer Herren zu sein, auf die das arg strapazierte Adjektiv «jung geblieben» zutrifft: Marian Turski (89), Auschwitz-Überlebender und seit der Gründung des Magazins 1957 dessen Redaktor für Geschichte, läuft uns auf dem Gang über den Weg: «Guten Tag, Herr Oberscharführer!», begrüsst er Krzeminski auf Deutsch und lacht.
Auch Krzeminski sieht in der Flüchtlingskrise eine der Ursachen des Regierungswechsels. Bis 1939 war Polen eine multikonfessionelle und multiethnische Gesellschaft. Doch durch die Vertreibung der Deutschen und den Holocaust sei man auf einmal unter sich gewesen. «Wir haben zwar viel verloren, aber wir sind auch zueinandergekommen», hätten sich viele Polen nach 1945 gesagt. Den Umgang mit anderen Kulturen habe man dabei verlernt, weswegen manche bereits die EU-Forderung, Polen solle 7000 Flüchtlinge aufnehmen, als Nötigung betrachteten.
Krzeminski betrachtet die politische Lage mit der Gelassenheit des erfahrenen Beobachters: Jaroslaw Kaczynski, der Chef der Regierungspartei, wolle aus Warschau ein zweites Budapest machen, doch der Vergleich mit Ungarn, wo Viktor Orban ein autoritäres Regime errichtet habe, hinke vorne und hinten.
Sieger und Verlierer
Schon die Geschichte der beiden Länder sei eine ganz andere: «Man sagt zwar gerne, die Polen und die Ungarn wären Halbbrüder im Krieg und beim Saufen. Aber Ungarn war immer Verlierer, Polen meistens Gewinner.» Ungarn habe nach dem Ersten Weltkrieg zwei Drittel seines Staatsgebiets verloren, Polen seine staatliche Unabhängigkeit wiedergewonnen. Im Zweiten Weltkrieg sei Ungarn mit Deutschland und Italien verbündet gewesen, während Polen von Anfang an auf der richtigen Seite gestanden habe.
Nach dem Krieg, 1956, seien die Ungarn mit ihrem Aufstand gegen das kommunistische Regime gescheitert, während es der polnischen Regierung gelungen sei, in Verhandlungen mit dem sowjetischen Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow Kompromisse auszuhandeln, die es dem Land erlaubt hätten, «frei im Rahmen der Möglichkeiten» zu sein.
Ein Dialog zwischen PiS und PO sei schwierig, sagt Krzeminski. «Es ist nicht einmal ein Kalter Krieg. Die Demonstranten beider Lager werfen sich dieselben Schlagworte an den Kopf und schwenken die gleichen Fahnen.» Den Älteren unter ihnen gehe es um die jüngere Vergangenheit: 1989 handelte die oppositionelle Gewerkschaft Solidarnosc an einem Runden Tisch mit der Führung der Kommunistischen Partei den Übergang zur Demokratie aus. Diese Vorgehensweise sei allerdings unter den Oppositionellen keinesfalls unumstritten gewesen.
Nachdem das Regime dann ein Jahr später kollabiert sei, hätten sich die Kritiker um eine Revolution betrogen gefühlt: «Sie hätten lieber blutig abgerechnet, mit Galgen und Guillotine», glaubt Krzeminski. Folglich behaupte Jaroslaw Kaczynski heute, die eigentliche Revolution komme erst mit ihm und seinen Leuten.
Unter den Jungen, so meint Krzeminski, interessiere sich kaum einer für «diese ollen Kamellen». Dort gehe es eher um «einen Zusammenprall der Zufriedenen mit den Unzufriedenen». Im Wahlkampf habe sich die PiS eine Maske aufgesetzt, um «modern und geschmeidig» zu erscheinen. Doch jetzt sässen all die Hardliner, die Kaczynski versteckt habe, in der Regierung.
Vielleicht, so sagt mir Krzeminski zum Abschied, sei es ja auch so: «Die Polen wählen eine Regierung ab, weil sie nur gut ist und nicht vorzüglich. Die Deutschen dagegen haben so viel Angst vor dem Chaos, dass sie sich mit Mittelmass zufrieden geben: erst 16 Jahre Kohl und jetzt 25 Jahre Merkel.»
Tomasz Wroblewski (56) ist Chefredaktor des Magazins Wprost («Einfach») und vielleicht meine letzte Chance, einen Einblick in die Gedankenwelt der Kaczynski-Anhänger zu erhalten. Zum Lager der PiS zählt auch er nicht, doch hat sein Blatt immer eine mittlere Position eingenommen.
«Keine von beiden Parteien hat recht, und das Gericht ist der Verlierer», sagt Wroblewski salomonisch und blickt aus seinem Fenster hinaus auf den Parkplatz eines Gewerbegebiets. Im Frühjahr habe die PO schon gewusst, dass sie die Wahl verlieren werde, und schnell noch fünf Richter ernannt, obwohl sie nur drei hätte bestimmen dürfen. «Die PiS kann nun das Syndrom des Belagerten pflegen, mit Kaczynski, dem Chef der Regierungspartei, als gefühltem Oppositionsführer.»
«Wer verliert, ist ein Loser»
In Polen selbst habe die Niederlage der PO im Oktober niemanden überrascht, sagt Wroblewski: «Nach acht Jahren an der Macht hatte die Partei ein Burn-out.» Wirtschaftlich sei es sehr gut gelaufen, Polen habe Portugal und Griechenland überholt. «Aber die Löhne stiegen nicht mehr. Viele konnten ihre Kredite nicht zurückzahlen, junge Leute bekamen keinen Job. Und das Narrativ der PO war: ‹Jeder kann es schaffen, wenn er nur will; wer verliert, ist ein Loser.›» – «Geht an die Universität, lernt etwas», hätten Eltern ihren Kindern gesagt. So seien Heerscharen von Soziologen und Historikern herangezogen worden, die sich nun ihr Auskommen als Kellner in London suchten. Gleichzeitig fehle es in Polen an Handwerkern und Ingenieuren.
Es ist eine Geschichte von zwei Ländern, die mir Wroblewski erzählt. Im Polen der PO finde man alles gut, was aus Brüssel komme oder als modern gelte und konservativen Katholiken verhasst sei: den Euro, die Homoehe, ein liberales Abtreibungsrecht und Präimplantationsdiagnostik.
Sitzungen überlässt er anderen
Die andere Reichshälfte, jene der PiS, sei konservativ und sozialistisch zugleich: Jaroslaw Kaczynski selbst verkörpere das perfekt. Wirtschaftliche Zusammenhänge interessierten ihn nicht, am liebsten wolle er beides haben: eine liberale Wirtschaftspolitik und einen ausufernden Wohlfahrtsstaat. Zudem hasse der PiS-Chef die tägliche Regierungsarbeit: Sitzungen seien ihm ein Gräuel, weswegen es ihm ganz recht sei, Beata Szydlo und Andrzej Duda als Administratoren vorschieben zu können.
Widersprüchliche Signale dringen aus den Korridoren der Macht nach draussen: Zum Direktor der staatlichen Eisenbahn habe Kaczynski einen früheren Stasi-Mann namens Kowalski machen wollen, der vor Kurzem die Krim besucht und den russischen Präsidenten Wladimir Putin gelobt habe, berichtet Wroblewski. Kowalski sei ein Vertrauter von Pater Tadeusz Rydzyk, dessen Radio Maryja, ein rechter katholischer Sender, immer wieder durch antisemitische Ausfälligkeiten von sich reden macht. Nach heftigen Protesten hätten Szydlo und Kaczyinski Kowalski schliesslich wieder fallen lassen.
Im Grunde, so Wroblewski, wisse die Regierung selbst nicht, was sie in den kommenden Jahren tun wolle: «Die PiS hat keinen Plan», das habe ihm sein früherer Stellvertreter Bartosz Marczuk erzählt, der jetzt in der Regierung sei.
Es ist der letzte Tag meines Aufenthalts in Warschau. Zeit für einen finalen Versuch, Kontakt mit der Regierungspartei aufzunehmen. Auf beinahe rührende Weise bemühen sich die Angestellten im Besucherzentrum des Sejm, mir behilflich zu sein: Eine halbe Stunde lang versuchen wir zu dritt, einen PiS-Politiker telefonisch zu erreichen. Doch offenbar ist niemand bereit, mir die Politik seiner Regierung zu erklären.
Der Verkäuferin des Souvenirshops, die hinzugetreten ist, scheint die Situation peinlich zu sein. Als ich gerade aufgeben und gehen will, schenkt sie mir, gewissermassen als Trostpreis, einen Kugelschreiber aus ihrem Fundus: «Sejm Rzeczypospolitej Polskiej» steht darauf. Das Stück liegt jetzt auf meinem Schreibtisch und erinnert mich an Polens schweigende Hälfte.
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