Die Rückkehr der Geschichte
Es tut weh, zuzusehen, wie Russland den Westen derzeit übertölpelt. Es wirkt, als ob das Römische Reich auf die Pfadi trifft.

Als man ihn vor wenigen Tagen fragte, was er von Putins Besetzung der Krim hielte, sagte John Kerry, der amerikanische Aussenminister: «Das ist wirklich ein Verhalten, das zum 19. Jahrhundert passt – sicher nicht zum 21. Jahrhundert. Man marschiert doch nicht einfach unter irgendeinem fabrizierten Vorwand in ein Land ein, um seine Interessen durchzusetzen!»
Tatsächlich? Wann genau griffen die USA den Irak an, mit dem Argument, es ginge darum, Massenvernichtungswaffen auszuschalten, die man nachher nicht fand? 19. Jahrhundert?
Kerry, der einst in Vietnam gekämpft hatte und dann zurückkehrte, um diesen Krieg zu bekämpfen, Kerry, der zuerst den Golfkrieg von 1992 ablehnte, später guthiess, Kerry, der dem Irak-Krieg zustimmte, weil er wie George W. Bush daran glaubte, dass Saddam Hussein über Massenvernichtungswaffen verfügte, hinterher aber alle kritisierte, die sich – wie er selbst – so wortreich geirrt hatten: Kerry gehört wohl nicht zu den kohärentesten Politikern der Gegenwart und doch drückt er genau deswegen wie kaum ein anderer das Elend des Westens aus – dessen Ohnmacht und dessen Versagen –, das zuweilen an Lächerlichkeit grenzt.
Anschwellendes Mitleid
Es tut weh, zuzusehen, wie Russland den Westen derzeit übertölpelt. Es wirkt, als ob das Römische Reich auf die Pfadi trifft. Ein Panzer rollt – und missachtet den Rechtsvortritt. Wer glaubt denn diesen westlichen Politikern, wenn sie sich über Putin entrüsten, drohen und warnen, während sie doch selbst ahnen, wie wenig bis gar nichts geschieht? Das amerikanische Militär, so vernimmt man, bricht jeden Kontakt zur russischen Armee ab. Unter anderem werden die so-genannten Hafen-Visiten gestrichen. Das wird die Russen erschrecken. Man hört sie schlottern. Putin, ein ehemaliger Geheimdienst-Offizier (KGB, Sowjetunion), trifft auf Politiker aus Alice's Wonderland.
Ein Verhalten aus dem 19. Jahrhundert? John Kerry, von der Ausbildung her ein Jurist und Politologe, versäumte es, die übrigen Jahrhunderte zu erwähnen: Was im 19. Jahrhundert als üblich galt, war das ebenso im 18., im 17., im 16., im 15., im 14., im 13. Jahrhundert und so weiter. Wer die Bibel kennt oder die Illias gelesen hat, weiss, dass ein solches Verhalten noch älter ist: Wenn etwas immer vorkam, seit es den Menschen gibt, dann war das der Krieg – und sehr selten sagten dabei jene die Wahrheit, die ein anderes Dorf brandschatzten oder ein anderes Land überfielen. Immer taten sie es aus Notwehr – oder um andere zu befreien. Was Kerry ebenfalls übersah: Das 21. Jahrhundert ist erst 14 Jahre alt – ob wir damit bereits mit Sicherheit sagen können, dass die Welt in ein neues post-machtpolitisches, auf immer pazifistisches Zeitalter eingetreten ist? Eine mutige Prognose. Kerrys 21. Jahrhundert ist bereits vorbei.
Obamas Flug
Was nicht sein darf, kann nicht sein: Mit dieser Maxime, so scheint es, hat sich die einstige Supermacht Amerika unter Führung ihres sonderbaren Präsidenten Barack Obama in eine Lage manövriert, in welcher man Schlimmstes befürchten muss. Gewiss, Putin ist kein grosser Staatsmann, kein bedeutender General, sondern ein Diktator, der Russland zu einer Oligarchie umbaut, aber er ist schlau.
Als KGB-Offizier lernte er nichts anderes, als die Schwächen seines Gegners aufzuspüren und sich zu notieren. Ein Spion, der sich in erster Linie dafür interessiert, was ist, weniger was sein könnte oder sein sollte – wogegen Obama das Gegenteil verkörpert: Ausgestattet mit einem beispiellosen rhetorischen Talent, ist er ein Mann, der sich im Normativen wohler zu fühlen scheint als in der Wirklichkeit, ein smarter Träumer im Weissen Haus – auch wenn er nüchtern wirkt, fast cool, ist er ein Entrückter. Er redet so lange davon, was sein sollte, dass er am Ende nicht mehr zu spüren vermag, was überhaupt ist, geschweige denn, was vorgefallen war.
Auf manche wirkte das zu Anfang recht interessant. Obama schien so besonders. Inzwischen ist seine Magie verraucht: Innenpolitisch gelähmt, aussenpolitisch ohne Fortune, könnte Obama sich am Ende als einer der wirkungslosesten Präsidenten seit Jimmy Carter entpuppen. Eine Chronologie der selbst bewirkten Demontage.
Im Reich der Fantasie
Ohne Gegenleistung, allein, um den Russen seinen guten Willen zu zeigen, verzichtete Obama zu Beginn seiner Amtszeit darauf, in Polen und Tschechien Raketenstellungen einzurichten. Die betreffenden Regierungen wurden vorgängig nicht einmal informiert – nachdem alle nötigen Verträge längst unterzeichnet waren. Zwar hätten sich diese Raketen gegen Iran gerichtet, doch den Russen passte es gar nicht, dass die Amerikaner im Begriff waren, sich in diesen einstigen Ostblock-Satelliten der Sowjetunion einzunisten. Barack Obamas Vorleistung war ein Geschenk, das die Russen ihm nie dankten. Warum sollten sie auch?
Als Syriens Diktator Assad sich anschickte, seine Untertanen zu massakrieren, wurde er von Obama gewarnt. Sollte Assad chemische Waffen einsetzen, würde er eine «rote Linie» überschreiten und müsste mit amerikanischer Vergeltung rechnen. Kaum hatte Obama dies der Weltöffentlichkeit mitgeteilt, liess Assad über tausend Männer, Frauen und Kinder mit chemischen Kampfstoffen vergiften. Obama tat nichts. Putin machte eine Notiz.
Vor wenigen Wochen – die Ukraine brannte längst, und in Kiew starben Demonstranten – kündigte Präsident Obama an, das Budget der amerikanischen Streitkräfte erheblich zu kürzen und die Armee auf eine Grösse zurückzuführen, wie sie vor dem Überfall der Japaner auf Pearl Harbor Ende 1941 bestanden hatte – also vor dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg. Damals war Amerikas Armee kleiner als die holländische.
Heimweh nach Jalta
Das Pentagon ist das einzige Departement der Regierung, das sparen muss. Offiziell haben die USA die Rezession überwunden, und Obama hat das Ende der Austerität gemeldet. Eigentlich gab es keinen finanziellen Grund, abzurüsten, es sei denn, man glaubt daran, dass der Krieg am Aussterben sei. Gleichzeitig rüsten Russland, China oder Iran ihre Armeen weiter auf, als wäre nichts geschehen. Putin, der Spion, schrieb einen Bericht: jetzt oder nie.
Er wäre ein Narr, hätte er die gute Gelegenheit nicht genutzt. Einen unsichereren Präsidenten als Obama dürften die USA auf absehbare Zeit nicht mehr haben. Wenn die Russen die Krim, ein Kleinod, das sie insgeheim nie aufgegeben hatten, je wieder zurückgewinnen wollen, dann in diesen Tagen. Kurz nach den Olympischen Spielen in Sotschi schlug Putin zu. Wäre es nicht Realität, man hätte es für den Einfall eines unbegabten Drehbuchautors gehalten. Nachdem die ganze Welt dem angeblich neuen Russland die Ehre erwiesen hatte, zeigte sich das ewige Russland, wie man es seit Jahrhunderten kennt.
Henry Kissinger, der einstige amerikanische Aussenminister und nach wie vor einer der klügsten Realpolitiker dieses Planeten, wies einmal darauf hin, dass Russland seit Peter dem Grossen (1672–1725) sich jedes Jahr um ein Gebiet vom Umfang Belgiens vergrössert hatte – bis die Sowjetunion 1991 zusammenbrach. Putin selbst sagte zu diesem Thema: «Der Untergang der Sowjetunion war die grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts.»
Der Westen war gewarnt. Imperial seit Urzeiten, expansionistisch aus fast zwanghaftem Drang, autoritär sowieso, ist Russland kein neues Land geworden. Ob 19. Jahrhundert oder 21. Jahrhundert: Putin hatte noch nie den Ehrgeiz, modern zu sein, sondern mächtig.
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