«Die neue Rechte inszeniert sich als Opfer»
Der Theologe Frank Richter war eine Schlüsselfigur der Friedlichen Revolution in der DDR. Nun blickt er mit Sorge auf Ostdeutschland.

«Hört endlich zu!» heisst Ihre aktuelle Streitschrift. Haben wir verlernt, einander zuzuhören?
Ich stelle einen allgemein verbreiteten Unwillen fest, die jeweilige Gegenseite verstehen und Kompromisse aushandeln zu wollen. Es fehlt an Offenheit und Dialogbereitschaft, aber auch an Empathie und der Fähigkeit zum Perspektivenwechsel. Diese mangelnde Bereitschaft zur Verständigung führt zu einer gesellschaftlichen Spaltung.
Wer soll denn wem zuhören?
Der Appell richtet sich an uns alle, im Buch beziehe ich mich aber auf innerdeutsche Konflikte: das Unverständnis der Westdeutschen für die Probleme der Ostdeutschen sowie auf die Kommunikationsschwäche zwischen Regierenden und Regierten.
Sie kritisieren auch Angela Merkel.
Ja. Obwohl sie in der DDR aufgewachsen ist, hat die deutsche Kanzlerin bisher wenig Gehör für die Sorgen der Ostdeutschen gezeigt. Es war fatal, als die deutsche Regierungschefin den kleinen Leuten «draussen im Land», wie bei der Neujahrsansprache 2015 geschehen, zu verstehen gab, dass ihre Ängste und Nöte angesichts der Probleme dieser Welt – der Flüchtlingskrise oder Krankheiten wie Ebola – unwichtig sind.
Wie geht es den Ostdeutschen denn dreissig Jahre nach dem Mauerfall?
Die Ostdeutschen fühlen sich in grossen Teilen verunsichert. Der Osten droht zum Mezzogiorno Deutschlands zu werden. Ganze Landstriche entvölkern sich. Die Grossstädte Berlin, Leipzig und Dresden sind da eine Ausnahme. Der Bevölkerungsschwund ist gewaltig. Die Abwanderung von Ost nach West hält seit 1945 an. Sie kommt nur langsam zum Stillstand. Zurück bleiben die Älteren und die Abgehängten. Die soziale Mitte, die in jeder Gesellschaft zum Ausgleich beiträgt, bricht weg.
So ist die AfD und nicht mehr die CDU heute die stärkste Kraft in Sachsen.
Die neue Rechte hat es verstanden, der Enttäuschung, die in der Gesellschaft vorhanden ist, einen Raum zu geben. Die AfD hat die Fähigkeit, die Wut der Menschen aufzugreifen, Ängste aufzublasen und Sündenböcke auszumachen. Es geht ja nicht nur um vereinsamte Menschen und entvölkerte Regionen. Der Osten Deutschlands erlebte auch zwei gravierende Entindustrialisierungswellen. Bis in die 40er-Jahre war Ostdeutschland eine der am meisten industrialisierten Regionen Europas. Nach dem Krieg fehlte für den Osten aber ein Marshallplan. Technisches Know-how floss nach Westen ab. Nach der Wende folgte die zweite Entindustrialisierungswelle. Abgesehen von ein paar wenigen Kernen, ist der Osten Deutschlands heute weitgehend eine entindustrialisierte Zone. Das wirkt nach – sozial, aber auch psychosozial, im Sinne einer Erfahrung des Verlusts, auch der Kränkung und Demütigung.
Wurden die Ostdeutschen im Stich gelassen?
In politischer und finanzieller Hinsicht sind die Ostdeutschen keineswegs allein gelassen worden. Staatsrechtlich ist Deutschland dreissig Jahre nach dem Mauerfall und dem Untergang der DDR selbstverständlich eine Einheit; auch im europäischen Kontext wird Deutschland als Ganzes wahrgenommen. Man hat auch investiert: Wer im Osten unterwegs ist, sieht sanierte Stadtkerne, tolle Autobahnen – da ist vieles entstanden und schön geworden.
Aber?
Die Politik hat sich seit dem Untergang der DDR vor allem auf den Bau einer Staatsstruktur konzentriert. Die kulturelle und psychosoziale Dimension dieses gewaltigen Umbruchs hatte sie entweder nicht im Blick oder in beachtlichem Umfang vernachlässigt.
Hier sprang die AfD in die Lücke.
Die AfD speist sich aus zwei Hauptquellen: Das eine sind die sozial Abgehängten, an denen Globalisierung und Digitalisierung vorbeigezogen sind. Die zweite Quelle sind die Kulturidentitären, die unter dem Defizit der eigenen Identität leiden und das Nationale oder oft auch Völkische in einem globalisierten Einheitsbrei untergehen sehen – und sich dagegen wehren. Im Osten sind beide Quellen der AfD besonders stark, weil die Menschen hier mehr als anderswo an einer Sinnentleerung leiden.
Wie meinen Sie das?
Die DDR war ein ideologisch Sinn-aufgeladenes Gebilde. Der Marxismus hat zwar nicht funktioniert. Er gab den Menschen aber eine geistige Heimat. Solidarität, Ausgleich, eine «heile Welt» – das alles war natürlich illusionär. Man hatte aber eine klare Vorstellung, wohin sich die Gesellschaft entwickeln soll: Sozialismus, Kommunismus. Der Einzelne fühlte sich in der Gemeinschaft aufgehoben.
Dann kam die Wende und mit ihr der Individualismus.
Der Individualismus, die westliche Liberalität und die akzeptierte Pluralität der Lebensentwürfe faszinieren durchaus. Ein sinnentleerter Kapitalismus führt zugleich aber zu massiven Verwerfungen. Der solidarische Zusammenhalt der Gesellschaft erodiert. Hier ist vor allem im Osten Deutschlands ein Sinnvakuum entstanden, das die neue Rechte mit drei Versprechen rasch zu füllen wusste: Zugehörigkeit, Anerkennung und Wertschätzung.
Das sind nicht völkische, sondern universelle, auch christliche Werte.
Richtig. Die Religion steht den Ostdeutschen als Sinnressource kaum zur Verfügung. Ostdeutschland ist die säkularste Region Europas. Deswegen sind die Auswirkungen von Neoliberalismus und Nationalismus hier auch stärker sichtbar als anderswo. Vielleicht mag die Religion im Westen noch immer als eine Art Reserve in unsicheren Zeiten dienen. Im Osten Deutschlands herrscht Orientierungsnotstand.
Was bedeutet das für die Wahlen, die 2019 in drei neuen Bundesländern anstehen?
Ich befürchte, dass die AfD auch bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg zur stärksten Kraft wird. Und noch mehr fürchte ich, dass vor allem in Sachsen dann grosse Teile der CDU mit dem Gedanken liebäugeln könnten, mit der AfD gemeinsame politische Sache zu machen.
Entspricht das nicht Ihrem Plädoyer fürs Zuhören und Einbinden statt einer Dialogverweigerung?
Natürlich muss der Dialog mit möglichst allen aufrechterhalten werden. Die Demokratie ist eine Gesellschafts- und Herrschaftsform der Integration. Nur durch Kommunikation kann die Spirale der Eskalation angehalten werden. Sachsen neigt aber momentan dazu, die Prinzipien der Liberalität, Pluralität und Offenheit preiszugeben und sich zu einem Ort zu entwickeln, wo autoritäres, nationalistisches und völkisches Gedankengut die Oberhand gewinnt. Die CDU sollte dazu nicht Hand bieten.
Was befürchten Sie bei einer schwarz-blauen Koalition?
Nicht alles muss so schlimm kommen, wie ich es befürchte. Ich habe in meinem Freundeskreis einige, die mit der AfD sympathisieren und dennoch nicht rassistisch argumentieren. Stellen wir uns in einer schwarz-blauen Regierung aber mal einen AfD-Erziehungsminister vor, der in Sachsen neue Lehrpläne durchsetzt, die beispielsweise den Holocaust anders bewerten. Stellen wir uns einen AfD-Innenminister vor, der Sachsen für Asylbetrüger zum «unattraktivsten Ort in Deutschland» (Zitat eines AfD-Funktionärs) machen will. Unsere vom Humanismus geprägte Kultur könnte grossen Schaden nehmen.
Wie gefährlich ist die AfD für Deutschland?
Von einem Rechtsruck zu sprechen, verharmlost die Gefahr. Die neue Rechte geht weiter. Die AfD kann gefährlich werden, wenn sie in entscheidende Machtpositionen kommt, weil sie in ihren Reihen Funktionäre wie Björn Höcke hat, die offen völkisch und tendenziell rassistisch politisieren. Die Postulate von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit beziehen sich nach dieser Auffassung ausschliesslich auf die Angehörigen des deutschen Volkes.
«Im Osten Deutschlandsentstand ein Sinnvakuum,das die neue Rechterasch mit drei Versprechenzu füllen wusste.»
Wie soll man der neuen Rechten begegnen?
Die neue Rechte fühlt sich am wohlsten, wenn wir uns an ihr abarbeiten. Der Kampfmodus ist ihr Lieblingsmodus. Die neue Rechte inszeniert sich gern als Opfer der demokratischen Ordnung, weil sie aus diesem Opfernarrativ ein Widerstandsrecht ableitet.
Also doch nicht zuhören und darauf eingehen?
Wir müssen die Gefahren der AfD benennen und allen politischen und gesellschaftlichen Themen, über welche die AfD die Deutungshoheit gewonnen hat, unsere eigenen Positionen gegenüberstellen. Demokratie bedeutet Auseinandersetzung ohne Angst vor Konflikten. Wir müssen die Demokratie verteidigen. Die Wut der Enttäuschten in Ostdeutschland kann auch zu einer konstruktiven Kraft werden.
Sie waren einst selbst ein Wutbürger.
In der DDR kannte man dieses Wort noch nicht. Aber ja, auch ich spürte vor der Friedlichen Revolution von 1989 eine Wut in mir. Die Frage ist, was man aus der Empörung macht. Sie soll nicht in Hass umschlagen. Wird sie politisch kanalisiert, kann sie jedoch viel bewirken. Die Friedliche Revolution von 1989 ist ein Paradebeispiel dafür, wie Friedfertigkeit und politische Intelligenz Geschichte schreiben können. Ich schaue mit grosser Freude zurück, wie das damals in der DDR und in anderen osteuropäischen Ländern gelang.
Und mit welchen Gefühlen blicken Sie in die Zukunft?
Ich bin kein pessimistischer Mensch. Ich fühle mich allerdings so wie damals vor der Wende. Auch heute sollten sich die Engagierten von der gesellschaftlichen Basis her überlegen, wie sie das Gemeinwesen, ihr Land gestalten, und welche Formen von Selbstwirksamkeit sie im Osten Deutschlands entwickeln wollen.
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