Die neue Realität über der Schweiz
Ein Expertenbericht liefert Fakten für den Kauf neuer Jets und räumt mit Fehlannahmen auf.

Wer jetzt schon wissen will, welcher Jet es in der bundesrätlichen Beschaffungsvorlage im Jahr 2022 genau sein soll, muss enttäuscht werden. Denn die Sachverständigen aus Rüstungsbeschaffung, Armee, Sicherheits- und Finanzpolitik hatten von Bundesrat Guy Parmelin (SVP) nicht den Auftrag, eine Typenwahl zu treffen. Vielmehr hatten sie in einer Gesamtsicht Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen, weil die heutigen Mittel zum Schutz des Luftraums das Ende ihrer Nutzungsdauer erreichen. Was vielleicht etwas langweilig tönt, ist tatsächlich von grosser Tragweite und hohem Interesse. Im fast 200-seitigen Papier werden Töne angeschlagen, die in den letzten 20 Jahren nicht zu vernehmen waren.
Vor dem Hintergrund eines massiv verschlechterten strategischen Sicherheitsumfelds in und um Europa beantworten die Experten plötzlich wieder Fragen über Sinn und Möglichkeiten einer «möglichst autonomen Luftverteidigung». So hält das Grundlagenpapier gleich zu Beginn fest, dass trotz quantitativer Reduktion nach Ende des Kalten Kriegs in Europa immer noch erhebliche Potenziale an Luftkriegsmitteln vorhanden seien.
Zahlreiche Staaten, unter ihnen auch Russland und einige Nato- Mitgliedsländer, modernisierten ihre Kampfflugzeugflotten; sie investierten in luft-, boden- und seegestützte Präzisionswaffen, die offensiv auf grosse Distanzen eingesetzt werden können. Und sie erneuern ihre Mittel der Luftverteidigung, die vom Boden aus in die Luft schiesst.
Betonung der Eigenständigkeit
Vorhandene Waffen an sich stellten noch keine Bedrohung dar, halten die Experten fast schon lapidar fest – aus Waffenpotenzialen könnten aber in Kombination mit einer Absicht konkrete Bedrohungen entstehen. Genau darauf müsse sich die Luftverteidigung der Zukunft ausrichten. «Die Schweiz will ihren Luftraum eigenständig schützen», heisst es weiter. Über den normalen Luftpolizeidienst hinaus müsse die Luftwaffe in Zeiten erhöhter Spannungen in der Lage sein, die Lufthoheit während Wochen und Monaten zu wahren. Dazu sei eine ausreichende Anzahl Kampfflugzeuge erforderlich.
Komme es im Umfeld der Schweiz zwischen Drittparteien zu militärischen Auseinandersetzungen, könne ein glaubwürdiger Schutz des Luftraums entscheidend sein, ob die Schweiz in einen Konflikt hineingezogen werde oder nicht. Im Falle eines Angriffs auf die Schweiz hätte die Luftwaffe mit ihren Aktionen die Bevölkerung zu verteidigen und den Einsatz der Armee am Boden zu ermöglichen. Dies würde im Verbund von bodengestützter Luftverteidigung und Kampfflugzeugen geschehen. Um ihren politischen Auftrag erfüllen zu können, sei die Luftwaffe umgekehrt selbst auf die übrige Armee angewiesen, etwa in der Logistik, bei der Cyberabwehr und dem physischen Schutz ihrer Einrichtungen.
Bemerkenswert ist auch die folgende Feststellung: Es sei entscheidend, dass sich die Anzahl Kampfflugzeuge nicht am Bedarf bemesse, wie er sich aus dem alltäglichen Luftpolizeidienst ergebe, sondern dass Grösse und Aufwand für die Luftwaffe von der Wahrung der Lufthoheit im Falle von Spannungen und von der Luftverteidigung bestimmt sei. Andernorts wird in Übereinstimmung mit der politischen Begleitgruppe festgehalten, die Kooperationsfrage stelle sich erst dann, wenn die Schweiz über ein gewisses Mass an autonomer Luftverteidigungsfähigkeit verfüge.
Der Expertenbericht räumt sodann auch mit früheren Vorstellungen auf, andere gewährleisteten die Schweizer Sicherheit quasi «en passant», während man selbst Geld einsparen könne. Dazu heisst es: «Der Gedanke, die Kampfflugzeugflotte klein zu halten und im Gegenzug die internationale Kooperation erheblich auszudehnen, beispielsweise durch eine gemeinsame Durchführung des Luftpolizeidienstes mit einem Nachbarn, mag auf den ersten Blick verlockend erscheinen.» In Rechnung gestellt werden müsse dabei aber, dass heute schon intensiv mit anderen Staaten zusammengearbeitet werde, einer weitergehenden Kooperation aus Gründen der Neutralität aber enge Grenzen gesetzt seien.
Von 20 bis 70 Kampfjets
Andernorts rechnen die Experten vor, wie lange es dauert, wenn bei einer gemeinsamen Luftpolizeiarbeit etwa mit Österreich ein Kampfjet von Payerne aus nach Wien fliegen müsste, um dort ein Flugobjekt zu kontrollieren. Oder wenn ein Jet der Bundeswehr von Österreich aus nach Genf fliegen müsste. Es dauerte in beiden Fällen etwa eine halbe Stunde. Auch bei Überschallgeschwindigkeit. Fazit des Chefs der Expertengruppe, Divisionär Claude Meier: «Man käme in jedem Fall zu spät.»
Aufgezeigt werden schliesslich Varianten mit 30, 40 oder 55 und mehr Flugzeugen sowie eine Option, bei der neben der Beschaffung von 20 neuen Kampfflugzeugen die vorhandene F/A-18-Flotte von 30 Flugzeugen bis zu ihrem Ersatz in den 2030er-Jahren vorläufig im Dienst behalten würde. Die Expertengruppe kommt zum Schluss, dass die Erneuerung der heute vorhandenen Luftverteidigungsmittel dringend anzugehen sei. Dazu soll bald mit der Evaluation eines neuen Kampfflugzeugs begonnen werden, mit dem Ziel, die Typenwahl 2020 zu treffen und den Verpflichtungskredit mit der Armeebotschaft 2022 beantragen zu können.
Das Vorgehen im Auswahlverfahren wird am Schluss ebenso detailliert festgehalten, wie mögliche Beteiligungen der Industrie während der Beschaffung und im Betrieb. In allen vier Optionen ist ein System der bodengestützten Luftverteidigung grösserer Reichweite vorgesehen, mit dem – abhängig von der Anzahl Kampfflugzeuge – die Fläche des Mittellandes oder der ganzen Schweiz geschützt werden könnte.
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