
Schon 2016, als David Bowie, Prince, Leonard Cohen, George Michael und Rick Parfitt (Status Quo) nacheinander aus dem Leben schieden, wurde die Liste der grossen Namen im Musikgeschäft entscheidend kürzer. 2022 schrumpfte sie weiter: Zwischen Januar und Dezember sind Olivia Newton-John («Grease»), Christine Perfect (Fleetwood Mac), der Filmkomponist Angelo Badalamenti («Twin Peaks») und die einflussreiche amerikanische Funk-Provokateurin Betty Davis für immer verstummt.
2022 hatte auch die Schweizer Musikszene Tote zu beklagen. Endo Anaconda (Stiller Has) war schon lange krank, trotzdem kam der Tod des Lebemanns und Literaten überraschend. Auch Fredy Studer, den glänzenden Schlagzeuger und Improvisator, wird man schmerzlich vermissen.
Die Liste der 2022 Verschiedenen lässt sich scheinbar endlos verlängern: Der Keyboarder Andrew Fletcher (Depeche Mode), der Schlagzeuger Taylor Hawkins (Foo Fighters), die Sängerin und Schauspielerin Irene Cara («What A Feeling» aus «Flashdance»), der kalifornische Rapper Coolio («Gangsta’s Paradise»), der amerikanische Rock-Melancholiker Mark Lanegan (Queens of the Stone Age), der gefeierte Orgelvirtuose Joey De Francesco (Miles Davis), der britische Ska-Aktivist Terry Hall (The Specials) und der Londoner Rapper Maxi Jazz (Faithless) sind ebenfalls alle im vergangenen Jahr aus dem Leben geschieden.
Die eigene Vergänglichkeit
Die meisten dieser Musikerinnen und Musiker waren zum Zeitpunkt ihres Ablebens wie ich um die 60 Jahre alt oder jünger. Dieser Fakt gibt mir zu denken, erinnert er mich doch an meine eigene Vergänglichkeit. Mein Schwiegervater, der als Pathologe einen eher düsteren Humor bedient, brachte mein Unbehagen unlängst so auf den Punkt: «Wenn Menschen aus der eigenen Generation wegsterben, merkt man, dass man selber in die Schusslinie geraten ist.»
1993 hatte Mick Jagger, der noch nie um ein Bonmot verlegen war, diesen Gedankengang aus der Warte des Rockstars heraus verfolgt: «Musiker in meinem Alter müssen immer weitermachen, um dem Publikum das Gefühl zu geben, selber unsterblich zu sein», sagte er, damals erst 50 Jahre jung. Ironisch jetzt, dass Jagger 2022 so zeitlich ungünstig an Corona erkrankte, dass das vermutlich letzte Schweizer Konzert der Rolling Stones abgesagt werden musste.

Musikerinnen und Musiker wie Andrew Fletcher, Irene Cara, Terry Hall und die Rolling Stones begleiten mich seit meiner Jugend. Unbewusst habe ich darauf gezählt, dass sie immer da sein werden. Und insgeheim habe ich auch darauf gehofft, dass ich ihnen einmal bei einem Interview gegenübersitzen würde.
Ob aktuelle Musikgrössen wie Beyoncé Knowles, Kanye West oder Taylor Swift eine vergleichbar nachhaltige Faszination auf Millennials ausüben werden, wenn diese Generation ins Pensionsalter rückt, ist fraglich. Schliesslich hat die Popmusik nicht mehr die kulturelle Gravität wie noch in meiner Jugend.
Elvis war wichtig – aber wer sonst noch?
Wie stark dieser Profilverlust mit der schleichenden Fragmentierung der Popkultur und der Medienlandschaft während der 1990er-Jahre zusammenhängt, ist unklar. Einige Beobachter stellten diese Tendenz schon viel früher fest. 1977 mutmasste der Rock-Kritiker Lester Bangs, dass der kurz zuvor im Alter von 42 Jahren verstorbene Elvis Presley wohl der letzte Musiker sein würde, über dessen Wichtigkeit man sich fortan werde einigen können.
Bangs’ Verdikt klang sinnig, er sollte sich aber 1980 als Fehlschluss erweisen. Der Mord an John Lennon, damals erst 40 Jahre alt, strafte Bangs Überlegungen Lügen. Lennons Tod liess niemand unberührt zurück. Auch Lester Bangs nicht, der 1982 selber verstarb.

Einer der letzten Überlebenskünstler, auf die Musikfans aus meiner Generation bisher zählen konnten, ist Shane MacGowan (65), einst Sänger, Songwriter und Sorgenkind der anglo-irischen Folk-Punk-Band The Pogues («Fairytale of New York»). Anfang Dezember wurde der geläuterte Alkoholiker und Junkie in ein Dubliner Spital eingeliefert; viele Journalistinnen und Journalisten werden ihre Nachrufe auf ihn vorbereitet haben. MacGowan ging jedoch bald wieder nach Hause, noch nicht ausgestanden hat er die bei ihm festgestellte Enzephalitis (Gehirnentzündung).
Traurigerweise geht es im neuen Jahr dort weiter, wo das alte aufgehört hat: Im Januar sind Jeff Beck, David Crosby (Crosby, Stills, Nash & Young) sowie Tom Verlaine (Television) im Alter von 78, 81 beziehungsweise 73 Jahren verstorben. In meiner Plattensammlung sieht es immer mehr wie auf einem Friedhof aus.
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