Die Moral eines Sprinklers
Jacques Chirac Frankreichs Ex-Präsident ist der Veruntreuung schuldig gesprochen worden – eine Premiere. Von Oliver Meiler Und dann passierte es doch noch. Völlig überraschend. Wider alle bösen Vorahnungen der Franzosen, die sich immer schon ärgerten über die Unantastbarkeit ihrer Mächtigen und auch diesmal die Blindheit der Justiz vorausahnten. Zu Unrecht. Jacques Chirac wird im Herbst seines Lebens, pensioniert und angeblich schwer krank, von den langen Schatten seiner barocken Amtsführung eingeholt. Ein Pariser Gericht hat den früheren Präsidenten (1995 bis 2007) wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder und Vertrauensbruchs zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Ja, wer hätte das gedacht. Die Verfehlungen liegen weit zurück, fast zwanzig Jahre schon, als Chirac, dieser formidable Netzwerker und unersättliche Anhäufer von Ämtern und Interessen, noch Bürgermeister von Paris war. Er soll damals fiktive Jobs und Beratermandate an Parteifreunde und Günstlinge verteilt haben. Er entlöhnte diese Leute aus der Kasse der Mairie, obschon sie keinen Finger rührten für die Hauptstadt. Diese unlautere Praxis war offenbar so systematisch, dass man ihn auch «l'arroseur» nannte – den Sprinkler. Die Seinen begoss Chirac stets generös. Unmoralisch und illegal. Als er 2007 mit dem Präsidentenamt auch seine Immunität verlor, warf die Justiz die Zeitmaschine an und öffnete zur allgemeinen Verwunderung das suspendierte Dossier der Scheinjobs wieder. Alles wurde in der Folge versucht, um Chirac diesen Prozess zu ersparen, diese Schmach. Und der Republik gleich mit. Das hatte es nämlich noch nie gegeben in der Nachkriegszeit, dass ein französischer Präsident, aktiv oder im Ruhestand, ein halber König also, vor Gericht musste. Die bürgerlichen Zeitungen thematisierten die prekäre Gesundheit des Gaullisten, den man doch bitte schön in Ruhe lassen solle. Und da Chiracs Popularität proportional zur Unpopularität seines Amtsnachfolgers Nicolas Sarkozy wuchs, fanden auch viele Franzosen, der alte Mann habe Nachsicht verdient. Doch die Kampagne brachte nichts, das Verfahren lief weiter. Darauf zahlte Chirac 600 000 Euro aus der eigenen Tasche an die Stadtverwaltung – als Schadenersatz. Die Regierungspartei Union pour un Mouvement Populaire, die aus der alten Gaullistenpartei Rassemblement pour la République hervorgegangen war, legte noch einmal 1,7 Millionen drauf. Den Deal handelten Chirac und Sarkozy, früher zwei Rivalen, bei einem Mittagessen bei ihrem Lieblingschinesen aus. Das bewog die nunmehr links regierte Pariser Mairie dazu, ihre Klage zurückzuziehen. Auch die Staatsanwaltschaft riet vom Prozess ab. Doch das Gericht zog das Verfahren weiter. Nun ist Chirac schuldig gesprochen worden, mit 79 Jahren. Er nahm nicht am Prozess teil, zeigte sich nie im Saal. Experten waren der Meinung, sein geistiger Zustand rechtfertige eine Dispens. Die Skeptiker hielten auch dieses Gutachten für einen Versuch, den Lauf der Justiz zu stoppen. Im Höchstfall hätten Chirac 10 Jahre unbedingte Haft und 375 000 Euro Busse gedroht. Das Strafmass fiel also milde aus, auch wenn die Adoptivtochter von einem «Albtraum» für die Familie sprach. Politisch aber ist das Urteil ein Donnerschlag – ein markiges Signal der Justiz an die Adresse des amtierenden Politpersonals, an die Mauschler unter ihnen. Keiner soll sich immun fühlen. Das Gesetz gilt für alle. Die «Egalité» zählt wieder etwas, und vielleicht sogar die Moral.
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