Die Macht der Jugend Die Macht der Jugend
In Frankreich wächst die Revolte der Jugendlichen gegen Nicolas Sarkozys Rentenreform. Besonders entschlossen wirken die Gymnasiasten, was im Elysée für reichlich Nervosität sorgt.In Frankreich wächst die Revolte der Jugendlichen gegen Nicolas Sarkozys Rentenreform. Besonders entschlossen wirken die Gymnasiasten.
Von Oliver Meiler, Marseille Es war ein denkwürdiger, ja surrealer Radiomoment. Als Victor Colombani am Freitag auf dem Staatssender France Inter nach seiner Meinung über die Regierung gefragt wurde, sagte er: «Die Regierung kommt mir unreif vor.» Victor Colombani ist 16 Jahre alt und Gymnasiast. Man sieht ihn in diesen Tagen oft im Fernsehen, hört ihn im Radio, liest Zitate von ihm in den Zeitungen. Der Jugendliche mit dem sicheren Gespür fürs politische Momentum sorgt, so erstaunlich das auch klingen mag, für eine ausgewachsene Aufregung im Elysée. Nicolas Sarkozy fürchtet den wachsenden Aufstand der Jungen gegen seine unpopuläre Rentenreform. Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte, angefangen beim mythischen 1968, lehrt die Politik, dass der massive und schwer kanalisierbare Protest von Jugendlichen die Ordnungskräfte in der Regel schnell überfordert. Und dass es Jugendbewegungen in der Vergangenheit oft besser gelang als rein gewerkschaftlich organisierten Protesten, Reformen zurückzudrängen. Colombani ist der Chef der jüngsten Kategorie von Reformgegnern: der Union Nationale Lycéenne (UNL), der linken Gewerkschaft der Gymnasiasten. Sie mobilisiert mit den Mitteln von heute: über das soziale Internet-Netzwerk Facebook und mit dem Versand von SMS. Und das funktioniert offenbar gut. Gestern Freitag blieben – je nach Schätzung – zwischen 350 und 700 der insgesamt 4300 Gymnasien im Land geschlossen, deren Eingangsportale verbarrikadiert von den Schülern. Am Vortag waren es erst halb so viele gewesen. Die Gymnasiasten sind stärker mobilisiert als die etwas älteren Studenten, bei denen der Funke noch nicht übergesprungen ist. «Das ist ja wie Krieg» In vielen Städten Frankreichs demonstrierten Tausende Mittelschüler. Sie skandierten Parolen gegen die Erhöhung des Rentenalters: «Arbeitslos mit dreissig, Rentner mit achtzig – non merci». Und, etwas geheimnisvoller, gegen den Präsidenten: «Sarko, wenn du wüsstest . . .» Wie es zu befürchten gewesen war, gab es bereits auch wüste Zusammenstösse mit den CRS, der republikanischen Garde, die immer in solchen Fällen ausrückt, um Aufstände mit Knüppeln, Wasserwerfern und Tränengas niederzuringen. In Montreuil bei Paris traf ein Gummigeschoss eines Polizisten, ein sogenannter Flashball, einen 16-jährigen Gymnasiasten am linken Auge. Er musste operiert werden. Die Polizei behauptete, die Jugendlichen hätten mit Steinen nach ihnen geworfen. Doch die dementierten und sprachen von unverhältnismässiger Gewaltanwendung der Sicherheitskräfte. In einem Mitschnitt der Szene, den ein Gymnasiast mit seinem Handy gemacht hat, hört man einen Schüler sagen: «Das ist ja wie Krieg, wie in Afghanistan.» Manipuliert? Das rechte Regierungslager bezichtigt nun die Linke, sie manipuliere die Jugendlichen für ihren Zweck. Das sei unverantwortlich und gefährlich. Eine Polemik entfachte die Sozialistin Ségolène Royal, die frühere Präsidentschaftskandidatin, nachdem sie im Fernsehen den Jugendlichen zurief, «friedvoll» zu protestieren, wenn sie auf die Strasse gingen. Doch für die Soziologen, die nun in den Medien zu Wort kommen, ist es fast unmöglich, Teenager im rebellischen Alter politisch zu manipulieren oder zu instrumentalisieren. Wenn sie der Kampf ideologisch nicht anspreche, so die vorherrschende Expertenmeinung, dann liessen sie sich dafür auch nicht mobilisieren. Es scheint so, als befürchteten die Jugendlichen, dass sich ihr Eintritt in die Arbeitswelt verspäten und ihre Chancen auf einen Job zusätzlich verringern könnten, wenn die älteren Generationen künftig noch länger arbeiten müssten, wie das die Reform vorsieht. Zumindest sind das die Slogans, die ihre Sprecher vor den Kameras repetieren – angeführt von Victor Colombani. Der junge Mann weiss um den Wert alter Strukturen. Facebook sei nur ein Mittel der Kommunikation, sagte er im Radio. Alle wichtigen inhaltlichen und organisatorischen Entscheide würden demokratisch gefällt: in grossen, lauten Generalversammlungen – der modernen Agora der politischen Bewusstseinswerdung. Wie das immer schon war. Dass sie nun von der Regierung nicht für voll genommen werden, sondern für manipulier- und instrumentalisierbar, halten viele Gymnasiasten für einen Hohn. Und gleichzeitig für einen Ansporn, noch heftiger zu protestieren. Noch schneller ganz reif zu werden. Bildlegende. Foto: Vorname Name, Agentur
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