Die humanitäre Tradition eingekellert
Verschleppte Asylgesuche: Wer Tausende von Anträgen einlagert statt sie zu behandeln, macht etwas falsch. Diese Einsicht fehlt den Verantwortlichen. Ein Kommentar von Thomas Knellwolf.

Im Irak kam es im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zur grössten Flüchtlingswelle in der Region seit der Vertreibung der Palästinenser aus Israel. Millionen Menschen flohen aus dem Zweistromland, das nacheinander Saddam Husseins Schreckensherrschaft, den Einmarsch US-amerikanischer GIs, Terror und Bürgerkrieg durchlebte. Von der Massenflucht waren vor allem Nachbarstaaten wie Syrien überfordert. Die Schweiz hingegen betraf die mesopotamische Völkerwanderung nur am Rande, und doch um einiges stärker, als bisher angenommen. Das wahre Ausmass hat sich, mit skandalöser Verspätung, erst diese Woche gezeigt.
Publik wurde, dass damals nicht nur wenige Tausend Iraker direkt in unserem Land Asyl suchten. Weit mehr, rund 10'000 Flüchtlinge, deponierten zwischen 2006 und 2008 ein Gesuch um Schutz in den Schweizer Botschaften in Syrien und Ägypten.
Alleingang im Geheimen
Darauf geschah Sonderbares: All die Anträge aus den Metropolen Damaskus und Kairo wurden von den Bundesbehörden statt behandelt zu werden schubladisiert. Bis heute lagern Tausende davon unbearbeitet in Couverts in einem Berner Untergeschoss.
Recherchen haben offenbart, wer den Entscheid zum Nichtstun fällte: die Spitze des Bundesamts für Migration (BFM) um den damaligen Leiter Eduard Gnesa und der Schweizer Botschafter in Syrien, Jacques de Watteville. Die Verantwortung dafür hat Christoph Blocher übernommen, in jener Zeit Justizminister. Er würde in einem analogen Fall wieder gleich handeln, sagte er dem TA.
Die Furcht vor der Lawine
Dies scheint insofern problematisch, als die Involvierten damals vermutlich im Alleingang und im Geheimen handelten. Sie fürchteten sich vor «einer Lawine von Anfragen» (so der heutige Schweizer EU-Botschafter de Watteville). Und vielleicht waren sie auch besorgt um die Asylstatistik, auf die man in jener Ära so stolz war. Die Fallzahlen wären statt gesunken massiv gestiegen. Jedenfalls hielt es niemand aus der Bundesverwaltung für nötig, die schweizerische Öffentlichkeit darüber zu informieren, dass die Gesuche eingegangen waren und nicht bearbeitet wurden. Diese Geheimniskrämerei entspricht nicht der schweizerischen politischen Kultur.
Die Verantwortlichen vertrauten darauf, dass sich das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) vor Ort der Hilfesuchenden annimmt – was auch geschah. Die Schweiz leistete via Direktion für Entwicklungszusammenarbeit (Deza) in Syrien direkt Hilfe. Dafür wird sie von internationalen Experten heute hochgelobt.
Bundesrat entschied: Kein Kontingent
Als das UNHCR die Bundesbehörden um die Aufnahme von besonders Bedürftigen bat, verhielt sich die Eidgenossenschaft alles andere als kooperativ. Blocher und die Mehrheit der Bundesräte entschieden, kein sogenanntes Kontingent von 500 Irakern, darunter Witwen, Gefolterte, Traumatisierte, ins Land zu lassen.
Dieser Entscheid kam immerhin – anders als die Schubladisierung der Gesuche – demokratisch zustande. Mit der hochgelobten humanitären Tradition unseres Landes lässt er sich kaum in Einklang bringen. Die Schweiz nahm immer wieder grössere Gruppen von Flüchtlingen aus ein und derselben Gegend auf. Sie konnte so vielen Verfolgten helfen: Es kamen und blieben Ungarn, Tibeter, Kosovaren. Mit allen Vor- und Nachteilen.
Bleibt die Frage, ob die Schubladisierung Tausender Asylgesuche rechtens war. Vieles deutet darauf hin, dass die Antwort Nein lautet.
Unterirdische Praxis
Das schweizerische Asylgesetz sieht vor, dass in Botschaften Anträge gestellt werden können. Nirgends steht, dass man so tun darf, als hätte es keine Anträge gegeben. Asyl kann jedoch verweigert werden, wenn es einer Person «zugemutet werden kann, sich in einem andern Staat um Aufnahme zu bemühen». Ob dies im Fall Tausender Iraker gegeben war, muss nun eine externe Untersuchung zeigen, welche Justizministerin Simonetta Sommaruga in Auftrag gegeben hat.
Mittlerweile scheint sich sogar das Bundesamt für Migration alles andere als sicher zu sein, ob es korrekt gehandelt hat. In internen Schriftstücken wird die Vorgehensweise als «rechtlich problematisch» taxiert. Mit anderen Worten: Die Praxis der Einkellerung war schlicht und einfach unterirdisch.
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