«Die Heroinabgabe nimmt den Stress»
Nach zehn Jahren in den Drogen und vier erfolglosen Entzügen kam er 2001 ins Zürcher Heroinprogramm. Das erst öffnete Oliver Schmid die Tür zum völligen Ausstieg.
Oliver Schmid* war im Zürcher Heroinprogramm. Seit vier Jahren braucht er keine Drogen mehr, auch keine ärztlich verschriebenen. Schmid ist eine Ausnahme, er weiss das. Darum missioniert er nicht. «Zu meinen, man habe die Wahrheit auf seiner Seite, finde ich furchtbar anmassend. Den Weg raus schafft man, weil man selbst es will, und nicht indem man anderen nachlebt.»
Zehn Jahre in der Drogenszene
Zehn Jahre lang, von 18 bis 28, lebte er in der Zürcher Drogenszene, spritzte Heroin und suchte immer wieder den Weg raus. Das erste Mal nur zwei oder drei Monate, nachdem er angefangen hatte, Heroin zu rauchen, und seine Lehre abgebrochen hatte. «Ich merkte, dass Hochgefühl nicht mehr kam, nur noch ein Normalgefühl, und wenn ich kein Heroin nahm, ging es mir schlecht.»
In seinem Zimmer machte er übers Wochenende einen kalten Entzug, hielt ihn aus – und holte sich zwei Tage später auf dem Platzspitz neues Heroin. An seinem 20. Geburtstag war Oliver Schmid wieder auf Entzug, freiwillig liess er sich zwei Wochen in der städtischen Therapiestation Frankental behandeln. Und kaum war er draussen, spürte er wieder das grosse Loch in sich, das sich nur mit Heroin oder einem Cocktail aus Heroin und Kokain schliessen liess. Mittlerweile spritzte er den Stoff. Er hatte nur wenig Geld und musste das Rauschgift effizient nutzen, da konnte er es sich nicht mehr leisten, zwei Drittel des Heroins als Rauch in der Luft zu verlieren.
Trotz aller Sucht bewahrte Schmid immer einen Rest von Widerstandswillen. Nachdem er ein halbes Jahr auf der Gasse und auf dem Letten gelebt hatte, wollte er sich selbst zum Entzug in die Klinik Hard in Embrach einweisen. Doch vor den Toren der Klinik bekam er Angst und kehrte um – ganz ohne Geld und unter dem Druck seiner Entzugsschmerzen überfiel er am gleichen Tag einen Laden. Es blieb beim versuchten Raub, er wurde geschnappt, und nach der Untersuchungshaft begann er eine Therapie in der Gemeinschaft Le Patriarche. Zweieinhalb Jahre lebte er drogenfrei in Patriarche-Camps in Spanien, Frankreich und Südamerika. «Ich war clean, weil es dort keinen Stoff gab. Aber ich habe nicht gelernt, mit der Versuchung zu leben.»
Kaum war er wieder in Zürich, stürzte er wieder ab. Zwar arbeitete er und spritzte sich wenn möglich nur an den Wochenenden seine Kokain-Cocktails. Doch nach einem Absturz verlor er auch diesen Job und lebte wieder ein halbes Jahr auf der Strasse und in Notschlafstellen. Auch der vierte Entzug war sein eigener Entschluss: Noch einmal versuchte er es in der Station Frankental, blieb fast zwei Monate, bis ein Therapieplatz im Kanton Solothurn frei wurde. Von dort aus fand er eine Stelle in einem grossen Warenlager, er wurde geschätzt, und nach zwei Jahren hatte er die Chance zum Aufstieg – da fuhr er nach Zürich und stürzte wieder ab. «Ich war mir meines Versagens bewusst. In zwei Wochen hatte ich verspielt, was ich mir in über zwei Jahren erarbeitet hatte. Das war der Moment, als ich ins Zürcher Heroinprogramm wollte.»
Erst das Heroin, dann die Arbeit
Im Februar 2001 begann Oliver Schmid in der Poliklinik Lifeline des Zürcher Sozialdepartements mit der heroingestützten Behandlung. Am Anfang hiess das, dreimal täglich eine vom ärztlichen Personal dosierte Spritze im Kliniklokal zu injizieren. Die Stunden dazwischen verschlief er in seinem Zimmer, er wollte gar nicht wach sein, nicht denken müssen. Er musste nur die 15 Franken aufbringen, die das Programm kostete, bevor die Krankenkasse es anerkannte. «Das war kein Problem, vorher musste ich täglich viel mehr auftreiben, um zu meinem Stoff zu kommen. Wenn du die 15 Franken zusammengebettelt hattest, hattest du einen ganzen Tag Ruhe – mir fiel ein Riesenstress weg.»
Trotzdem war es kein einfacher Weg. Die Versuchung, das therapeutische Heroin mit Kokain aufzupeppen, war da. «Es dauerte ein halbes Jahr, bis ich da Gegensteuer geben konnte.»
Langsam rappelte sich Oliver Schmid auch in der Arbeitswelt auf. Zuerst als Taglöhner in einfachen Werkstätten des Sozialdepartements. Irgendwann kam ein Sozialarbeiter zu ihm und sagte, er sei doch schon so lange drogensüchtig, da sei es an der Zeit, eine IV-Rente zu beantragen. «Das hat mir gezeigt, wo ich stand. Halt, sagte ich mir, ich bin doch nicht invalid. Ich bin drogensüchtig, aber gesund. So entschloss ich mich, mit 30 Jahren eine Berufslehre anzufangen.»
Er begann mit einer Anlehre, das wurde eine reguläre Handwerkerlehre, und als er diese meist nur mit Bestnoten beendet hatte, fragte sein Chef, ob er nicht noch eine Zusatzausbildung als Konstrukteur anschliessen wolle. Oliver Schmid wollte. «Mich reizt das ruhige, konzentrierte Arbeiten am Computer. Von Architekten bekommen wir Pläne, und wir müssen sie so in die Realität umsetzen, dass die Sache auch hält.»
Kein Schutzmäuerchen mehr nötig
Mit der regelmässigen Arbeit kam Stabilität in Oliver Schmids Leben. Bald schon konnte er die Dosis reduzieren. Vor knapp fünf Jahren, als der TA zum ersten Mal mit ihm sprach, sagte Schmid noch: «Das Heroin ist mein Schutzmäuerchen, damit nicht alles so nahe an mich herankommt.» Ein halbes Jahr später brauchte er auch dieses Schutzmäuerchen nicht mehr. Seit Sommer 2004 nimmt er nur noch das Medikament Subutex. Das dockt an die Heroin-Rezeptoren im Nervensystem an und versiegelt sie. Würde er jetzt Heroin noch konsumieren, hätte es keinen Effekt mehr. Doch Oliver Schmid lebt seit sechs Jahren ohne Rückfälle, die Versuchung ist weg.
Für ihn war die heroingestützte Behandlung der Anfang vom Ausstieg. Das gelingt nur den wenigsten Langzeitsüchtigen. «Die Heroinbehandlung ermöglicht Süchtigen zum ersten Mal ein menschenwürdiges Leben – überhaupt ein Leben», sagt Oliver Schmid. «Wer als Süchtiger jeden Tag alle Kraft braucht, um seinem Stoff nachzurennen, hat keine Chancen, sich anders zu orientieren. Erst das Heroinprogramm schafft die nötige Ruhe dafür.»
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