Die Gelato-Schlange, das zähe Vieh
Warum eigentlich stehen so viele Menschen eine halbe Stunde für eine Glace an? Weil es sich lohne, sagen sie. Wirklich? Wir haben das nachgeprüft.
Wie feiert man 2017 eine Heldentat? Genau, mit einem Selfie. Viele, die aus der Gelateria di Berna auf den Brupbacherplatz hinaustreten, zücken sofort ihr Handy, um sich selbst und ihre Beute zu fotografieren. Die Glace-Selfies wandern später ins Internet, #gelateriadiberna.
Mitte Mai eröffnete das Glaceunternehmen aus der Hauptstadt seine erste Zürcher Niederlassung. Seither herrscht Hypealarm in Wiedikon. An warmen Abenden reihen sich die Menschen hintereinander – wie von einer unsichtbaren Hand gefügt. Bis heute sind die Schlangen kaum kürzer geworden. Selten wurde in Zürich so dauerhaft und so lange angestanden.
Warum aber tun sich die Menschen ein solches Martyrium freiwillig an? Ein Selbstversuch soll Klärung bringen.
Nichts lenkt ab vom Warten
Es ist Donnerstagabend, halb neun, über den Häusern schichten sich Gewitterwolken übereinander wie dunkle Glacesorten (mögliches Aroma: Aktivkohle-Brombeere). Wir starten mit einer Kurzumfrage unter jenen, die es geschafft haben. Der junge Mann etwa, der leicht abseitssteht, allein mit einer grenzvioletten Glace (Cassis). Nach dem Selfie löffelt er los, ein Lächeln auf dem Gesicht. Er sei schon zum zweiten Mal hier heute, sagt er. Es lohne sich. Das bestätigen alle anderen. Es lohne sich. Wirklich. Zuerst aber gilt: Es langweilt. Und nervt. Das ist wissenschaftlich erwiesen. Nichtstun und Ausgeliefertsein behagen dem Menschen nicht. Es gibt Tricks, um wartenden Menschen das Gefühl von Beschäftigtsein vorzutäuschen, zum Beispiel mit Spiegeln. Auf dem Brupbacherplatz fehlt solche Ablenkung. Man kann auch nicht so tun, als stünde man zum Plausch auf dem Kies herum. Immer wieder schielt man noch vorn, schätzt ab, wann man den Tresen erreicht, achtet darauf, dass sich keiner vorbeimogelt, wobei man sich davor kaum fürchten muss. Die Disziplin wirkt vorbildlich. Ein kollektives Warte-Erlebnis bildet sich erst mal nicht heraus. Die Wartenden reden kaum miteinander, die Grüppchen und Pärchen bleiben unter sich.
DS: «Das letzte Mal, dass ich so lange anstehen musste, war im Europapark.»
BM: «Ich kann mir nichts Essbares vorstellen, das diese Qual rechtfertigt.»
Zur Ablenkung betreiben wir Schlange-Soziologie. Stark fällt die Einheitlichkeit der Geduldigen auf. Sie sind jung (zwischen 20 und 40), wirken wohlumsorgt und schweizerisch. Sie kleiden sich modisch, jedoch nicht modisch genug, um als szenig gelten zu können. Es hat einen leichten Frauenüberschuss. Niemand raucht, niemand trinkt Bier, niemand verhält sich laut oder sonst wie daneben.
BM: «Das ist der neue Kreis-3-Mittelstand. Nett. Angepasst. Trifft sich vor der Gelateria wie Teenager, die noch zu jung sind, um Alkohol zu kaufen.»
DS: «Ach was. Gelaterie sind eine bewährte italienische Methode, um den öffentlichen Raum zu beleben. Schön, dass das auch in Zürich funktioniert.»
Lange Zeit belebten Autos und Lastwagen den heutigen Brupbacherplatz. Der Ort war Teil der Westtangente, die 2010 schloss. Seither hat sich die Umgebung stark gewandelt. Häuser wurden renoviert, die Wohnungen verteuerten sich. Dies ist auch im Haus der Gelateria di Berna geschehen, wo einst eine Pannenhilfe das Erdgeschoss belegte. Derzeit sind die frisch sanierten Wohnungen ausgeschrieben: Für drei Zimmer im dritten Stock zahlt man 3350 Franken – das entspricht rund 950 Glaceportionen aus der Gelateria weiter unten.
Schrittchenweise rücken wir vor, vorbei am Namensschild des Platzes. Dieser ist Fritz Brupbacher (1874 bis 1945) gewidmet, einem Arzt, der zu links war für die SP, zu wild für die Kommunisten. Ein Leben lang kämpfte er für die «einfachen Leute», für Demokratie, Bildung, bessere Löhne, weniger Verklemmtheit.
DS: «Stell dir vor, was Brupbacher heute zu seinem Platz sagen würde: lauter zufriedene, wohlhabende, gebildete Menschen. Er könnte es kaum glauben.»
BM: «Fluchen würde er über die hohen Mieten, die alle Armen vertreiben.»
Die Gewitterwolken haben sich eingeschwärzt. Tropfen platschen, es «strääzt» los. Auch unter Wasserbeschuss löst sich die Schlange nicht auf. Sie knickt nur. Der vordere Teil drängt in die geschützte Gelateria, alle anderen, für die dort kein Platz bleibt, schmiegen sich an die Hausfassade. Niemand scheint aufzugeben, trotz Sintflutregen. Selbst die Disziplin bleibt gewahrt. Ein einziges Pärchen nutzt die meteorologische Unruhe, um unrechtmässig Plätze zu schinden.
Kurz vor dem Glace-Tresen erfasst uns leichte Nervosität. Jetzt gilts ernst, doch die Wahl fällt schwer bei so vielen unbekannten Sorten. Mare di Nutella? Randen-Wasabi? Fior di Latte? Zuppa Inglese? Und plötzlich, nach 35 Minuten schritteln, steht man vor den erstaunlich gut gelaunten Gelatoristas (oder besser: Fachkraft Glace?), die einem mit erstaunlicher Sorgfalt und Geduld die Glace hinpäppeln. Alle rundherum bestellen mindestens zwei Aromen. Wer über eine halbe Stunde lang ausgeharrt hat, gönnt sich eher zu viel als zu wenig.
Draussen hat sich das Gewitter ausgetobt. Ein paar Äste hat es von den Bäumen geholt, die Gelato-Schlange, dieses zähe Vieh, vermochte es nicht zu verkürzen. Wir schlendern hinaus, widmen uns der Beute. Um noch ein Selfie anzufertigen, fehlt uns die Geduld.
BM (Marzipan-Mohn plus Randen-Wasabi): «Speziell.»
DS (Marzipan-Mohn plus Mare di Nutella): «Schmeckt wie Glace.»
Nach einer weiteren Kurzumfrage unter den Gelati-Fans formulieren wir vorsichtige Thesen zur Ansteh-Euphorie. Ausschliessen lässt sich der DDR-Mauerfall-Effekt: dass sich die Zürcher daher so gierig auf das Berner Eis stürzen, weil sie bis Mai an einem Gelato-Mangel litten. Laut Kennern hat man in Zürich schon vorher gute Glacen gekriegt.
Die Gelateria passt hingegen bestens in die vorherrschende Food-Verliebtheit. Die Wartenden reden mit Vergnügen über die verschiedenen Aromen, vergleichen Geschmäcker, stellen sich vor, was sie das nächste Mal bestellen. Man kann das kulinarische Aufgeschlossenheit nennen. Oder Zeitverschwendung. Gleichzeitig wirken die Glacen aus «ehrlichen Ingredienzen» gesünder als die Plastikkübel im Supermarkt. Auch die Schlange selbst wird zum Ereignis. Die meisten Wartenden thematisieren das Warten, aber nicht als Ärgernis. Man akzeptiert es als selbstverständlichen Teil des Gesamterlebnisses. Dazu kommt: Solche Hypes sind ein Phänomen, das in Grossstädten wie Berlin oder New York immer wieder auftritt. Schlangen scheinen eine Art Gruppengefühl herzustellen. Wer ansteht, gehört dazu – zu wem auch immer. Deshalb führt man das auch stolz im Internet vor. In diesem Fall müsste man die Wiediker Glace-Schlange als Ausdruck einer Identitätskrise deuten. Vielleicht läuft es auch viel einfacher. Eine Erkenntnis aus der Schlange-Psychologie lautet: Wenn langes Warten mit einem guten Erlebnis endet, nimmt man es rückwirkend viel positiver wahr.
DS: «Ich merke schon jetzt, wie dieser Effekt zu wirken beginnt.»
BM: «Bei mir bleibt vor allem etwas zurück: klebrige Hände.»
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