Tierwelt in der Antarktis Besuch bei den furchtlosen Robben am Südpol
Der Robbenbestand am Südpol hat sich teilweise erholt – verantwortlich dafür ist der Walfang. Eine Antarktis-Rundreise ermöglicht Einblicke in die Lebenswelt der verschiedenen Robbenarten.

Dieser Artikel stammt aus der Schweizer Familie
Gemächlich tuckert das Schlauchboot in Richtung Ufer. Die Gruppe Antarktis-Reisender freut sich über die Robben: Sie liegen auf Eisschollen, auf flachen Felsen oder ganz einfach am Strand und schauen mit ihren grossen Kulleraugen die Besucherinnen und Besucher verwundert an.
Die Tiere sind entspannt. Wozu sollten sie sich fürchten? Hier, in ihrer Heimat, der Antarktis, drohen keine natürlichen Feinde, vor denen sie sich in Acht nehmen oder fliehen müssten. Zumindest nicht an Land. Im Wasser sähe es anders aus. Doch davon später.
Diese Reise ist ein Angebot der Schweizer Familie, mehr Infos finden Sie hier.
Robben sind einfach sympathisch. Ihnen zu begegnen, ist ein Höhepunkt auf jeder Polarkreuzfahrt. Selbst für den Biologen Michael Wenger, 50, der in den letzten 17 Jahren 22-mal als Reiseleiter in der Antarktis war, ist jede Begegnung ein Erlebnis. «Als ich zum ersten Mal eine Rossrobbe sah», erinnert er sich, «schossen mir die Tränen in die Augen.»

Die Rossrobbe hat nicht etwa mit Pferden zu tun, sondern ist benannt nach dem britischen Entdecker und Seefahrer James Clark Ross (1800–1862). Die Rossrobbe mit ihrem silbrig-braunen Fell und den grossen Augen ist eine von sechs Robbenarten, die in der Antarktis vorkommen.

Sie ist die seltenste – oder besser: die am seltensten beobachtete Robbenart. Daneben gibt es Weddellrobben, Krabbenfresserrobben, Antarktische Seebären, Südliche See-Elefanten und Seeleoparden.

Die Tiere sehen aus, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Dabei geht gerne vergessen, dass Robben Raubtiere sind. Dem Menschen werden sie jedoch kaum gefährlich, was umgekehrt leider nicht gilt. Zu Millionen wurden die gutmütigen Tiere abgeschlachtet und je nach Art beinahe ausgerottet, meist wegen ihres Fells. Doch diese Zeiten sind glücklicherweise vorbei: Die meisten Bestände haben sich erholt und gedeihen prächtig.
Weniger Wale, mehr Robben
Im Fall der Krabbenfresserrobbe gibt es jedoch nicht nur erfreuliche Gründe für deren Zunahme: Durch die Walfängerei ging die Konkurrenz um Nahrung drastisch zurück. Sowohl der Bartenwal wie auch die Krabbenfresserrobbe ernähren sich vor allem von Krill, kleinen Krebschen, die sie aus dem Wasser filtern. Die fehlenden Wale lassen die Krillpopulation wachsen, wovon die Robben profitieren.

Eine andere Lieblingsspeise haben See-Elefanten: Sie ernähren sich zur Hauptsache von Tintenfischen, die sie in rund tausend Metern Tiefe erbeuten. «Bei seinen Tauchgängen kann ein See-Elefant 60 bis 70 Minuten lang die Luft anhalten», sagt Michael Wenger.


Die Männchen dieser Robbenart sind echte Kolosse: Ein Bulle bringt bis zu vier Tonnen auf die Waage. Die Weibchen dagegen wiegen nur etwa ein Viertel davon. «Das Verhältnis der beiden Geschlechter ist wie bei einem Sumoringer und einer Geisha», fügt Michael Wenger schmunzelnd an.
Von einem Robbenbaby geküsst
Der Antarktis-Spezialist kam einem jungen See-Elefanten einmal unglaublich nahe, viel näher, als er eigentlich vorgehabt hatte. «Ein See-Elefanten-Baby lag im Gras, und ich wollte es fotografieren, legte mich hin, denn ich will die Tiere auf Augenhöhe vor der Kamera haben», erzählt Michael Wenger.

Das Baby kroch auf den Fotografen zu, und «irgendwann musste ich die Kamera zur Seite legen, denn ich konnte nicht mehr scharf stellen, so nahe war das Baby schon». Auf einmal war es vor seinem Gesicht, gab ihm einen «Kuss» auf die Stirn und fing an, an Michael Wengers Nase zu saugen. Sehr zum Gaudi der übrigen Expeditionsteilnehmerinnen und -teilnehmer.
Ein anderes Mal forderte eine Teenager-Robbe einen Guide-Kollegen zum Ringen auf. «See-Elefanten sind super spannende Tiere», resümiert Michael Wenger, «wenn sie klein sind. Doch wenn sie älter werden, liegen sie nur noch am Strand herum.»
Bei solchen Erlebnissen braucht man keine Angst vor aggressiven Müttern zu haben, die ihre Jungen verteidigen. Denn wie die meisten Robben werden kleine See-Elefanten schon früh entwöhnt, und die Mutter verlässt ihr Baby. Die jungen Robben sind nun auf sich allein gestellt und erkunden voller Neugierde alles am Strand. Sie suchen oft die Nähe zu menschlichen Wesen, sobald ihre Mutter sich nicht mehr um sie kümmert.
Weniger umgänglich ist der Seeleopard. Seinen Namen hat er wegen seines gefleckten Fells und weil er ein Beutegreifer ist, der neben Kleintieren und Fischen auch Pinguine und junge Robben anderer Arten erbeutet. Robben, die andere Robben verspeisen: Wer hätte das gedacht! Rund 80 Prozent aller Krabbenfresserrobben tragen Narben von Wunden, die ihnen Seeleoparden zugefügt haben. Nur jedes fünfte Junge überlebt sein erstes Jahr. Ein hoher Anteil der Verluste dürfte auf Seeleoparden zurückgehen.
Die grössten Feinde der Robben sind jedoch die Schwertwale, auch Orcas genannt. Die riesigen Meeressäuger sind clevere Jäger, die in der Gruppe ihre Opfer verfolgen. Häufig versuchen verfolgte Robben, sich auf einer Eisscholle in Sicherheit zu bringen. Doch das beeindruckt die Orcas nicht. Sie schwimmen dicht nebeneinander und knapp unter der Wasseroberfläche auf die Scholle zu und erzeugen so eine Welle, die über die Eisscholle schwappt und die Robbe mitreisst. Ältere Schwertwale bringen ihrem Nachwuchs die Jagdstrategie bei: Sie legen gefangene Robben wieder zurück auf eine Scholle, damit die Jungtiere die Chance bekommen, es selbst zu versuchen.

Zurück zu den Seeleoparden: Ihre Männchen können auch gegen Menschen aggressiv werden. Es gibt Berichte, wonach Seeleoparden Boote attackierten oder aus dem Wasser sprangen, um einen Menschen am Bein zu packen. Vielleicht hat dies mit der schlechten Sicht vom Wasser aus zu tun. Von Natur aus springen die Raubtiere hoch, um an der Eiskante stehende Pinguine zu ergreifen. Eine menschliche Silhouette kann da schon mal an einen Pinguin erinnern. Noch mehr ähneln den Pinguinen vermutlich die schwarzen, torpedoförmigen Pontons der Festrumpf-Schlauchboote. Seeleoparden beissen da gerne hinein, sodass die Pontons neuerdings mit einem Schutz vor Durchlöcherung versehen sind.
Auch die Begegnung mit einem Antarktischen Seebären kann zu einem Abenteuer werden. Diese Robbenart wurde früher stark bejagt – wegen ihres Pelzes. Sie wird daher auch Pelzrobbe genannt. Die Jagd nach dem kostbaren Pelz brachte die Seebären an den Rand des Aussterbens.
Harem für einen Seebären
Heute hat sich die Art erholt, es gibt wieder über eine Million Tiere. Männliche Seebären sind während der Paarungszeit ziemlich temperamentvoll. «Sie teilen die Strandabschnitte unter sich auf, jeder hat sein Territorium, wo er einen Harem unterhält», sagt Michael Wenger. «Wir Menschen sehen die Grenzen dieser Territorien nicht – für die Männchen sind sie dagegen ziemlich klar.» Wer die Linie überschreitet, wird angegriffen. Der erfahrene Reiseleiter hat in den letzten 17 Jahren zwar «nie eine extrem gefährliche Situation erlebt, aber man muss halt schon aufpassen».

Die Paarungszeit ist für den männlichen Seebären äusserst anstrengend. An Nahrungsaufnahme ist kaum noch zu denken. Und mit der Zeit ist er nicht einmal mehr in der Lage, den sexuellen Bedürfnissen seiner Haremsdamen zu genügen. Bisweilen schläft er während einer Paarung ein, worauf die betroffene Partnerin lautstark protestiert. Passiert das mehrmals, stimmen alle Weibchen in das Protestgeschrei ein. Damit signalisieren die Frauen ihren Wunsch nach Ablösung. Das Geschrei lockt einen anderen, ausgeruhten und haremslosen Bullen herbei. Es kommt zum Kampf, bei dem der neue meist gewinnt. Die Zeit eines Paschas ist begrenzt und der Verschleiss an Männchen gross.
Die Krabbenfresserrobben leben dagegen saisonal monogam. Mutter und Jungtier sind in Gesellschaft eines Bullen, der die beiden bewacht und verteidigt. Das wäre an sich nichts Besonderes, wäre er auch der Vater des Jungen. Aber das ist er mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht. Warum verteidigt er dann Mutter und Kind? Ganz einfach: Er hat so beste Chancen, Vater des nächsten Kindes zu werden, das dann wiederum von einem anderen Männchen verteidigt wird.
Es geht also darum, beim Weibchen in die Kränze zu kommen. Sobald das Jungtier selbständig ist, darf er sich mit dessen Mutter paaren. Die beiden bleiben zwei Wochen zusammen, bevor sie im Meer wieder getrennte Wege gehen. Nach rund zehn Monaten kommt das Weibchen erneut an Land, um sein nächstes Junges zu gebären und auf einen neuen Schutzpatron zu treffen.
Auch wenn ein Weibchen sein Junges nur rund einen Monat lang säugt, ist das eine äusserst kräftezehrende Zeit. Die Muttermilch ist sehr fetthaltig, etwa so wie Greyerzer Doppelrahm. Während das Junge schnell an Gewicht zulegt, nimmt seine Mutter entsprechend ab. Denn sie frisst in dieser Phase nichts und verliert bis zur Hälfte ihres Körpergewichtes.
Jungtiere robben in die Irre
Entwöhnte Junge sind auf sich allein gestellt, niemand bringt ihnen das Jagen nach Beutetieren bei. Zum Glück hilft ihnen dabei ihr Instinkt. Doch lässt er sie ab und zu auch im Stich. Junge Krabbenfresser verlieren manchmal die Orientierung und wandern landeinwärts anstatt in Richtung Meer. Ihre mumifizierten Kadaver wurden schon weit im antarktischen Eis gefunden, viele Kilometer vom Meer entfernt.
Vielleicht hat die Desorientierung auch mit Rangeleien um den besten Platz am Strand zu tun. «Die besten Plätze sind natürlich vorne am Strand und die schlechteren hinten», sagt Michael Wenger. Die jüngeren und schwächeren Tiere weichen nach hinten aus, und es kann durchaus sein, dass sie sich dabei «verlaufen».
Ausweichen müssen Robben auch vor dem Eis des antarktischen Winters, wenn das Meer rund um den Kontinent zufriert. Nur die Weddellrobbe harrt aus. Wie alle Säugetiere brauchen auch Robben Luft zum Atmen. Doch wie soll das gehen, wenn ein dicker Eispanzer auf der Wasseroberfläche liegt? «Weddellrobben schaben regelmässig mit ihren Zähnen das Eis weg.

So halten sie ihr Loch offen», erklärt Biologe Michael Wenger. Nur schon die blosse Vorstellung, mit den Zähnen Eis zu schaben, lässt einem das Blut in den Adern gefrieren. Tatsächlich geht diese Technik auch an den Robben nicht spurlos vorbei. «Das Eisschaben macht ihre Zähne kaputt», sagt Michael Wenger, «darum werden Weddellrobben nicht so alt, wie sie werden könnten, wenn sie das nicht machen müssten.»

Die Eislöcher werden häufig von Männchen bewacht, die dabei Töne von sich geben, welche unter Wasser gut gehört werden und die Weibchen anlocken. Kommt nun ein Weibchen und streckt den Kopf aus dem Atemloch, nützt der Lokalmatador die Situation schamlos aus und paart sich unter Wasser mit der Artgenossin.
Elf Monate später bringt das Weibchen ein Junges zur Welt und zieht den Nachwuchs in Kolonien auf dem Festeis auf. Die Jungen mit ihrem weichen, silbergrauen oder goldfarbenen Fell sehen so herzig aus, dass man sie am liebsten knuddeln würde. Das geht natürlich nicht. Selbstverständlich halten Antarktis-Reisende respektvoll Abstand und freuen sich auch so über den wunderbaren Anblick.
Die Pole Als Mittelpunkt: Der Biologe und Reiseleiter Michael Wenger ist auch Chefredaktor der Zeitschrift «Polar Journal». Zudem hat er zahlreiche Artikel über die Arktis und Antarktis geschrieben. polarjournal.ch
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