Die Frage ist, wie sie mit diesen Bildern weiterleben können
Ein Akt der Gewalt an einem Kind – das kann schlimmste seelische Folgen haben. Für Angehörige, aber auch für Zeugen und Helfer.

Mehrfach stand sie nachts allein vor einer Haustür und wusste, die Welt der Menschen drinnen würde in wenigen Sekunden aus allen Fugen geraten: «Wenn die Angehörigen dann Details wissen wollen und Du denen das dann schonend beibringen musst, dir das Bild vom Tatort mit all seiner Grausamkeit noch frisch im Gedächtnis ist, das ist hart.»
Die deutsche Kriminalpolizistin schaffte es irgendwann nicht mehr, Angehörige zu informieren, ein Familienmitglied sei Opfer eines Verbrechens geworden. Sie suchte eine psychosomatische Klinik auf – und erzählte den Kollegen, sie fahre in den Urlaub, aus Furcht vor «Macho-Kommentaren».
Die Psychologie spricht in solchen Fällen von sekundärer Traumatisierung. Sie kann Menschen widerfahren, die zwar nicht selber Opfer von Gewalt oder Unglücksfällen wurden, aber diese miterlebten oder mit ihnen befasst waren wie etwa Rettungs- und Einsatzkräfte. Die Bilder von Ereignissen wie dem furchtbaren Gewaltverbrechen am Frankfurter Hauptbahnhof werden sie wohl nie vergessen; die Frage ist nur, wie sie mit diesen Bildern weiterleben können.
«Hätte ich die Tat verhindern können?»
Was dort geschah, sagt Regina Steil, Leiterin der Trauma-Ambulanz an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, «gehört in der Kombination zu jenen Taten, welche die schlimmsten seelischen Folgen haben können: ein brutaler Akt der Gewalt, noch dazu an einem Kind.»
Ein Trauma kann zu einer ausgewachsenen Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) führen. Im Fokus der Notfallmassnahmen stehen natürlich die Mutter des Jungen, die ebenfalls auf die Gleise gestossen wurde und überlebte, oder der Lokführer, der nicht mehr bremsen konnte. In solchen Fällen können die Psychologen noch an Ort und Stelle vor allem «Schutz bieten und Nähe», sagt Steil.
Aber auch Sanitäter, Feuerwehrleute und Polizisten am Tatort sind belastet. Opfer und Augenzeugen verfallen oft in Dauergrübeln, so Regina Steil: «Sie quält die Frage: Hätte ich noch etwas tun, hätte ich die Tat gar verhindern können?»
Dringender Rat: keinen falschen Stolz zeigen
Diese Selbstvorwürfe sind seelisch sehr belastend und betreffen sogar Menschen, die die Tat gar nicht miterlebten. Das sind etwa Bekannte oder Familienmitglieder eines Täters, dessen Verhalten ihnen zuletzt merkwürdig vorgekommen war und die sich dann vorhalten, nicht rechtzeitig etwas unternommen zu haben. Manche Betroffene schätzen Symptome eines Traumas nicht richtig ein: Konzentrationsschwäche, Schlaflosigkeit, Vermeidung von Situationen, die schlimme Erinnerungen auslösen. Hier kann eine Psychotherapie vieles heilen, zumindest lindern.
«Eines wissen wir sicher», sagt Traumaexpertin Steil: «Es hilft Betroffenen, darüber zu sprechen.» Zwar finde vielerorts noch immer die Auffassung, harte Männer (und Frauen) gingen sicher nicht zum «Psychodoktor». Aber diese Alphatier-Haltung sei auf dem Rückzug.
«In den vergangenen drei Jahrzehnten hat sich sehr viel getan», sagt Regina Steil, gerade Berufe, «deren Angehörige einem hohen Traumatisierungsrisiko ausgesetzt sind, bieten inzwischen vielfältige professionelle Hilfe an». Ihr dringender Rat: keinen falschen Stolz zeigen und diese Hilfe nutzen. Die Zeit der Ignoranz gegenüber posttraumatischen Belastungsstörungen ist vorüber. Aber , sagt Regina Steil: «Aber die Betroffenen werden ein Leben lang mit den Folgen konfrontiert bleiben. Wir können ihn nur dabei helfen.»
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