Giftanschlag auf russischen OppositionsführerDie EU sucht nach der harten Sanktion
Die EU und die Nato erhöhen nach dem Giftanschlag auf Alexei Nawalny den Druck auf Russland. Ob die Europäer der scharfen Verurteilung auch Taten folgen lassen, wird von Angela Merkel abhängen.

Es ist kein formelles Ultimatum. Aber spätestens in drei Wochen wird die EU Farbe bekennen müssen. Am 24. und 25. September kommen die Staats- und Regierungschefs in Brüssel zu einem Gipfel zusammen. Entweder hat Präsident Wladimir Putin bis dann einen Beitrag geleistet, um die Hintergründe des Giftanschlags gegen den Oppositionspolitiker Alexei Nawalny aufzuklären. Oder die EU muss beim Treffen entscheiden, ob sie den harten Worten auch Taten folgen lassen will.
«Die Europäische Union verurteilt den Mordversuch gegen Alexei Nawalny auf das Schärfste», so der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell. Die russische Regierung müsse alles dafür tun, um das Verbrechen aufzuklären und um die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen. «Straffreiheit darf und wird nicht akzeptiert werden.» Dass Putin bis in drei Wochen Antworten liefert, ist unwahrscheinlich. Die EU wird also am Gipfel, an dem es eigentlich um den Brexit und die Corona-Krise gehen sollte, auch über Russland reden müssen.
Liste der Todesfälle
Die Liste der unaufgeklärten Todesfälle ist lang, und selten hat die EU mit Sanktionen reagiert. Denn diese können nicht wahllos gegen beliebige Personen verhängt werden, sondern müssen einer Überprüfung vor Gericht standhalten. Nach dem Anschlag mit dem militärischen Kampfstoff Nowitschok auf den ehemaligen russischen Doppelagenten Sergei Skripal 2018 in Grossbritannien setzte die EU mutmassliche Täter und Führungskräfte des Militärgeheimdienstes auf ihre Sanktionsliste. Anders als bei Nawalny war das ein Anschlag in einem EU-Mitgliedsland, und die mutmasslichen Täter konnten relativ rasch zurückverfolgt werden. Die betroffenen Geheimdienstleute dürften Einreise und Kontensperren aber nicht gross beeindrucken.
Wirtschaftssanktionen hat die EU nach der Annexion der Krim und Russlands hybrider Kriegsführung im Osten der Ukraine verhängt. Russische Firmen, die von den Strafmassnahmen betroffen sind, haben sich allerdings weitgehend arrangiert. Eine Möglichkeit wäre, Putin und sein Umfeld von Auslandskonten und Immobilien abzuschneiden. Aber die EU hat sich zuletzt schwergetan, eine gemeinsame Linie zu finden. Und Sanktionen müssen einstimmig beschlossen werden.

Der Druck steigt jetzt allerdings. 100 EU-Parlamentarier fordern in einem parteiübergreifenden Aufruf eine internationale Untersuchung des Giftanschlags auf Nawalny. Nach einer Sondersitzung mit den Botschaftern der Nato-Mitgliedsstaaten verlangte am Freitag auch Generalsekretär Jens Stoltenberg eine internationale Reaktion. Am EU-Gipfel dürfte sich entscheiden, wie hoch der Preis diesmal ist. Und einiges deutet darauf hin, dass Angela Merkel die Antwort mitbringen wird. «Das starre Festhalten Deutschlands an Nord Stream 2 sorgt in Europa seit Jahren für Frust», sagte Manfred Weber, konservativer Fraktionschef im EU-Parlament und Vertrauter der deutschen Bundeskanzlerin, gegenüber dem Magazin «Der Spiegel». Die Vergiftung von Alexei Nawalny sei eine neue schwerwiegende Entwicklung. Das Ende von Nord Stream 2 dürfe nicht mehr ausgeschlossen werden.
Nord Stream 2 ist blockiert
Für Merkel wäre der Schritt im Moment gar nicht so gross, das ohnehin umstrittene Projekt zumindest auf Eis zu legen, bis die Vorwürfe zum Giftanschlag geklärt sind. Die Pipeline soll russisches Erdgas durch die Ostsee und an Osteuropa vorbei direkt nach Deutschland bringen. Die Projektgesellschaft Nord Stream 2 mit Sitz in Zug, die unter Kontrolle des russischen Gazprom-Konzerns ist, kann die Röhre aber wegen Sanktionsdrohungen der US-Regierung gegen Baufirmen und Standortgemeinden derzeit ohnehin nicht fertigstellen.
Gleichzeitig wäre Angela Merkel der Applaus der Osteuropäer sicher, die schon lange vor noch grösserer Rohstoffabhängigkeit von Russland warnen und das deutsche Festhalten an der Pipeline als unsolidarisch anprangern. Der vorläufige Verzicht würde vor dem Hintergrund des Giftanschlags auf den russischen Oppositionspolitiker auch nicht wie ein Kniefall vor Donald Trump aussehen, der den Europäern amerikanisches Flüssiggas verkaufen will – eigentlich eine Win-win-Situation für die deutsche Bundeskanzlerin.
Stephan Israel ist in Zürich aufgewachsen, hat in Genf Science Politique studiert und ist in Bern in den Journalismus eingestiegen. Er war während der Jugoslawienkriege Korrespondent in Südosteuropa. Seit 2002 schreibt er aus Brüssel über die schwierige bilaterale Beziehung und die Krisen der EU.
Mehr Infos@StephanIsraelFehler gefunden?Jetzt melden.