«Die Energiewende ist eine Illusion»
Naturschutzpionier Josef Reichholf wirft den Umweltverbänden Unlauterkeit vor.

BaZ: Herr Reichholf, Sie befassen sich seit vielen Jahrzehnten intensiv mit der Natur. Was ist aus Ihrer Sicht die grösste Umweltbedrohung unserer Zeit?
Josef Reichholf: Es ist die Landnutzung – also der Ackerbau im weitesten Sinn, im Süden der Welt auch die Viehzucht. Dadurch werden riesige Flächen ökologisch verändert. Leider ist der Schutz der natürlichen Lebensräume wegen der Fokussierung auf den Klimawandel in den Hintergrund gerückt, obwohl die Erwärmung, wenn überhaupt, erst in vielen Jahrzehnten wirksam wird. Wir riskieren, dass uns in der Zwischenzeit die Arten aussterben: Denken wir an die Abholzung der tropischen Regenwälder oder an das Verschwinden natürlicher Auenwälder bei uns. Zumindest in Deutschland werden naturnahe Flächen vor allem auch durch den Anbau von Pflanzen für die Energiegewinnung zurückgedrängt.
Haben wir einen Notstand?
Absolut. Neunzig Prozent der Tier- und Pflanzenarten sind durch die direkten und indirekten Folgen der Landwirtschaft gefährdet. Was Städte angeht, ist es allerdings so, dass diese umso mehr Arten auf ihrem Gebiet aufweisen, je grösser sie sind. Städte sind zum Teil sogar artenreicher als Naturschutzgebiete. Wer den Artenreichtum Mitteleuropas erleben will, reist mit Vorteil nach Berlin.
Zubetonieren ist also gar nicht so schlimm für die Natur? Jedenfalls ist es aus Sicht der Natur von Vorteil, wenn ein Maisfeld durch den Bau eines Einkaufszentrums verdrängt wird. Wenn auf unseren Wiesen hingegen der Löwenzahn massenhaft erblüht, ist das ein Signal, dass es dort kaum mehr Wildbienen und Schmetterlinge gibt.
Sie sind schon als Kind viel in der Natur gewesen. Wie war es damals?
Damals sah man überall Schmetterlinge. Es hatte viel mehr Vögel als heute, und überall zirpten die Grillen. Das ist alles weg. Was Gewässer angeht, haben wir zwar grosse Fortschritte bei der Reinigung von Haushaltsabwässern gemacht. Gleichzeitig wird aber Gülle in grossen Mengen ausgebracht. So wird der Boden dauernd überdüngt und mit problematischen Stoffen befrachtet.
In Deutschland und in der Schweiz soll in den letzten Jahrzehnten ein Grossteil der Insekten verschwunden sein. Ist das Insektensterben Realität?
Sicher. Ich habe ja selber wissenschaftliche Ergebnisse beigesteuert, die das belegen. In einigen Gebieten gibt es nur noch wenige Prozente der Insektenmengen, die in den 1970er-Jahren vorhanden waren.
Die Insekten sollen gerade auch in Naturschutzgebieten zurückgegangen sein. Das ist doch paradox.
Nur scheinbar. Die Überdüngung durch die Landwirtschaft wirkt sich nicht nur auf den genutzten Flächen aus. Die riesigen Mengen an Stickstoff, die zumindest bis über die Jahrtausendwende ausgebracht worden sind, gelangten über die Luft auch in Wälder und geschützte Gebiete.
Auch am Insektensterben ist also die Landwirtschaft schuld?
Absolut. Der Einsatz von Herbiziden und Insektiziden wirkt sich ebenfalls über die Nutzgebiete hinaus aus.
Was ist die Lösung? Bioanbau statt Intensivkulturen?
Das wäre ein gangbarer Weg. Wichtig ist vor allem, dass wir von der Subvention von Massenbetrieben wegkommen. Kleinbauern, die auch Landschaftspflege betreiben, müssten stärker unterstützt werden.
In der Schweiz wird die Landschaftspflege teilweise abgegolten. Aber ökologische Landwirtschaft bedeutet geringere Erträge. Müssen dann nicht zusätzliche Flächen unter den Pflug genommen werden – auf Kosten naturnaher Gebiete?
Nein, denn es herrscht ja Überproduktion. In Deutschland zum Beispiel wird das Land intensiv bewirtschaftet, weil genau dafür Subventionen fliessen.
Aber weltweit ist es anders. Wegen des Bevölkerungswachstums sind künftig grössere Erntemengen notwendig. Bei einem grossflächigen Wechsel auf Biolandbau müssten neue Gebiete für Ackerbau genutzt werden.
Das bezweifle ich. Denken Sie an Indien. Das Land ist stark von kleinbäuerlicher Agrarwirtschaft geprägt. Trotz des enormen Bevölkerungswachstums versinkt Indien aber nicht in Hungersnöten. In Afrika und Südamerika hingegen werden die grössten Landwirtschaftsflächen nicht zur Versorgung der heimischen Bevölkerung genutzt, sondern um Tierfutter für den Export in die Erste Welt zu erzeugen. Das deutsche Stallvieh frisst sozusagen den tropischen Regenwald. Wir haben es hier mit einer Art Neokolonialismus zu tun, der von entwickelten Staaten und insbesondere auch von China betrieben wird.
Also sollten wir alle weniger Fleisch essen, damit nicht so viel Futter für Viehzucht importiert werden muss?
Klar. Grundsätzlich sollte die Bestockung von Weideland mit Vieh in einem ausgewogenen Verhältnis zur Fläche stehen. Wenn aber so viel Vieh wie heute in den Ställen steht, muss viel Nahrung importiert werden.
Sie haben die Klimaerwärmung angesprochen. Viele Umweltschützer sehen darin die grösste Gefahr für Mensch und Natur. Sie offenbar nicht.
Man muss die Verhältnisse realistisch sehen. Ich kann die Besorgnis wegen der Erderwärmung zwar nachvollziehen. Fakt ist aber, dass eine wärmere Witterung günstig für die allermeisten Tier- und Pflanzenarten ist. Entgegen den Erwartungen haben sich die wärmeliebenden Arten in den letzten Jahrzehnten nicht ausgebreitet. Sie sind im Gegenteil zurückgedrängt worden. Man hat eben den Effekt der Düngung übersehen. Dieser führt zu einer dichteren Bodenbedeckung und damit in der untersten Luftschicht zu kühleren und feuchteren Verhältnissen.
Mehr Klimaerwärmung ist also super, denn sie rettet die wärmeliebenden Arten?
Das wäre dann doch ein zu simpler Schluss. Aber man sieht an der erwähnten Entwicklung, dass oft ganz andere Effekte massgeblich sind als diejenigen, die angekündigt werden.
Sie verkennen den Ernst der Lage. Eine Erwärmung von zwei bis drei Grad mag günstig für die Natur sein, nicht aber ein solcher von vier bis fünf Grad, wie es gegen Ende des Jahrhunderts möglich ist. Die Auswirkungen für den Regenwald und die Artenvielfalt wären katastrophal.
Ich bezweifle, dass es so schlimm kommt. Wenn wegen der Erwärmung das Eis schmilzt, bedeutet das nicht, dass zwangsläufig auch die Natur leidet. In Mitteleuropa haben sich die Wärmeverhältnisse im Laufe des 20. Jahrhundert nicht gross verändert. Es wurde aber vorausgesagt, dass wir hier bald mediterrane Verhältnisse hätten. In Wahrheit reisen wir noch immer ans Mittelmeer, um unseren verregneten Sommern zu entkommen. Generell sind die Prophezeiungen in Sachen Klimawandel so übertrieben düster, dass die Bevölkerung sie nicht mehr ernst nimmt.
Sie stehen den Warnungen, wie sie etwa vom Weltklimarat kommen, also skeptisch gegenüber?
Durchaus. Der Weltklimarat führt einen Alarmismus im Umweltbereich fort, der sich längst aufgebraucht hat. Auch der Wald ist ja nicht gestorben. Problematisch ist vor allem, dass die Einflüsse der sogenannten Dritten Welt bei den Klimaabkommen weitgehend ausgeklammert worden sind. Dabei werden im Süden grosse Landflächen abgebrannt, mit entsprechender CO2-Produktion. Aber die Rollen von Gut und Böse sind fest verteilt. Ich bezweifle, dass der bisher praktizierte Klimaschutz etwas Positives bewirkt.
Der Ansatz ist Ihnen zu moralisch.
Genau. Sinnvoller wäre es, wenn wir in Deutschland und der Schweiz vorlebten, wie man sich vor klimatischen Veränderungen schützen kann. Ablasszahlungen zu entrichten, bringt hingegen nichts.
Ein Modewort unserer Zeit ist Nachhaltigkeit. Demnach sollte unser Handeln stets auf Bewahrung ausgerichtet sein. Müssen wir nachhaltig leben?
Wünschenswert wäre es sicher. Aber es hat noch nie funktioniert. Jede bisherige Generation hat versucht, für sich das Maximum herauszuholen. Der moralische Ansatz funktioniert einfach nicht. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.
Nachhaltigkeit orientiert sich an der Vorstellung eines Gleichgewichts in der Natur. Sie aber schrieben in einem Essay im Spiegel: «Das Leben kämpft beständig gegen das Gleichgewicht.»
Das Leben funktioniert eben in Ungleichgewichten, obwohl uns ständig das Gegenteil weisgemacht wird. Denken Sie an den Gang der Jahreszeiten. In der Natur ist jeder Ablauf ein Abweichen von Gleichgewichtszuständen. Damit etwas wachsen kann, muss ein Organismus mehr Energie aufnehmen, als er abgibt. Dazu ist also ein Ungleichgewicht notwendig. Nur was tot ist, bleibt gleich.
Stichwort Energiewende: Ich war letztes Jahr in Bayern unterwegs, Ihrer Heimat. Weite Teile der Landschaft sind dort von Windrädern und Freiflächen-Solaranlagen geprägt. Ist das eine gute Entwicklung?
Bestimmt nicht. Der energetische Aufwand bei solcher Art der Stromproduktion ist ja meist grösser als der Energieertrag. Noch schlechter bezüglich Ökobilanz schneiden allerdings Energiepflanzen ab.
Deutschland will weg von Atom und Kohle. Solche Eingriffe in die Landschaft müsse man hinnehmen, sagen viele Umwelt- und Naturschützer.
Dann müssten wir in letzter Konsequenz unsere ganze Natur opfern. Ich aber halte die Energiewende für eine Illusion und das Vorgehen für diktatorisch. Die Nachteile der verschiedenen Formen der Stromproduktion werden eben extrem einseitig gegeneinander aufgerechnet.
Sie meinen, Atomstrom wird schlechtgeredet?
Ja. Nach der Explosion im AKW Fukushima zum Beispiel wurde in unserem Fernsehen der Eindruck erweckt, als wären die 20 000 Toten der Tsunamikatastrophe eine Folge der Reaktorhavarie. In Wahrheit ist dort kein einziger Mensch durch Strahlung ums Leben gekommen.
Also am besten wieder Atomkraftwerke bauen?
Es wird letztlich kein Weg daran vorbeiführen. Wenn fortschrittliche Länder wie Finnland beschliessen, AKW zu bauen, um den eigenen Wald zu schonen – und dieser ist ja riesig –, dann kann das nicht völlig falsch sein. Die Atomgegner aber hängen Glaubensbekenntnissen nach. Die Energiewende hat nichts mit Ökologie zu tun. Die Konsequenzen für die Natur sind nicht bedacht worden.
Sie waren Naturschützer der ersten Stunde. Spüren Sie heute eine Entfremdung zu anderen Umweltschützern?
Ja und nein. Beim konkreten Naturschutz vor Ort, bei den lokalen Umweltgruppierungen, bin ich nach wie vor engagiert. Da geht es darum, möglichst gute Ergebnisse zu erzielen, ideologiefrei. Auf Verbandsebene hingegen bin ich auf Distanz gegangen. Ich sehe, wie sehr sich diese Verbände von Glaubensgrundsätzen leiten lassen. Sie vertreten Positionen und behaupten Dinge, die sachlich schlicht falsch sind. Als Wissenschaftler kann ich da nicht mitmachen.
Ist heutiger Umweltschutz menschenfeindlich? Der Mensch ist aus der Sicht vieler Umweltschützer ja ein Schädling.
Ich halte das für eine grundfalsche Einstellung. Man darf den Menschen auch nicht von Reservaten aussperren. Es ist im Gegenteil wichtig, dass sie die Natur kennenlernen können. Heute aber darf man viele Gebiete nicht betreten und auch kaum mehr etwas auflesen, das Tiere hinterlassen haben, etwa Federn. Alles ist genehmigungspflichtig, nicht nur in geschützten Räumen. Ich selber wäre unter den heutigen Bedingungen des Artenschutzes kaum Biologe geworden. Da muss man sich nicht wundern, wenn ein Grossteil der Menschen kein Interesse mehr an der Natur hat.
Josef Reichholf, 73, darf als Urgestein der deutschen Naturschutzszene bezeichnet werden. Der Zoologe und Evolutionsbiologe ist Honorarprofessor an der Technischen Universität München und leitete von 1974 bis 2010 die Sektion Ornithologie der Zoologischen Staatssammlung München. Auch gehörte er mehrere Jahre dem Präsidium des deutschen WWF an.
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