Die deutsche Patientin
Die britische Labour-Partei blüht, die SPD leidet an sich selbst: Liegt das Vorbild, dem die deutsche Sozialdemokratie nacheifern sollte, nordwestlich des Kanals?

Es wäre nicht das erste Mal, dass die britische Labour-Partei als Modell für die SPD herhalten würde. 1997 führte Tony Blair Labour zurück an die Macht – nach 18 Jahren in der Opposition. Anderthalb Jahre später gelang dem SPD-Spitzenkandidaten Gerhard Schröder in Deutschland dasselbe, nachdem seine Partei 16 Jahre lang dem Christdemokraten Helmut Kohl beim Regieren hatte zusehen müssen.
Blairs und Schröders Erfolgsrezepte ähnelten sich: Beide hatten ihre Partei in jene ideologische Region geführt, die von professionellen Beobachtern gern als Mitte lokalisiert wird: Wer Labour oder SPD wählte, sollte eine pragmatische Regierung erwarten dürfen – und keine linken Experimente.
Gut zwei Jahrzehnte später, so meinen manche, könnte Labour den deutschen Sozialdemokraten wieder den Weg weisen. Der konservative Daily Telegraph hat Juso-Chef Kevin Kühnert, 28, bereits als «deutschen Jeremy Corbyn» ausgerufen, wahrscheinlich ein wenig voreilig, wie wir nun wissen. Der Heilsweg, den Labour gegangen ist und den die SPD nach dem Willen Kühnerts gehen soll, würde in die entgegengesetzte Richtung führen, in die seinerzeit Blair und Schröder marschierten – aus der Mitte zurück nach links.
Dass die Rufe nach einem entsprechenden Kurswechsel in der SPD in Zukunft noch lauter werden, ist zu erwarten, denn zumindest die Zahlen sind eindeutig: 40 Prozent gewann Labour vergangenen Juni bei den Parlamentswahlen, fast zehn Prozentpunkte mehr als 2015. Die SPD dagegen brachte es bei den Bundestagswahlen im September auf 20,5 Prozent und büsste damit gegenüber 2013 gut fünf Punkte ein.
Während Labour die regierenden Tories an den Rand einer Niederlage brachte, wird die SPD, sofern ihre Mitglieder in den kommenden Wochen zustimmen, als Juniorpartnerin in einer Grossen Koalition weitermachen und dort, so befürchten linke Sozialdemokraten, weiter an Profil verlieren.
Durch Alltagssorgen politisiert
Auch die Mitgliederzahlen sprechen für sich: Während Labour neue Genossen in Scharen zulaufen, verläuft der Trend bei der SPD in die Gegenrichtung. Die Hinwendung junger Briten zur Arbeiterpartei – und das heisst wohl in fast allen Fällen: zum linken Kurs Corbyns – hat dabei mehr mit Alltagssorgen als mit Ideologie zu tun: Wer mit jungen Labour-Aktivisten redet, hört Klagen über hohe Studiengebühren sowie astronomische Mieten und Hauspreise, aber wenig marxistische Theorie.
Das Gefühl, es schlechter zu haben als die eigenen Eltern, und das Wissen darum, sich das Leben in den Grossstädten nicht mehr leisten zu können, lässt immer mehr Hochschulabgänger an der Marktwirtschaft zweifeln. Ähnliche Probleme haben – wenn auch weniger scharf akzentuiert – junge Deutsche: Wohnraum in den Städten hat sich in den letzten Jahren verteuert; der Berufseinstieg führt häufig über jahrelange Beschäftigung in befristeten Verträgen. Die Wirtschaft wuchs in beiden Ländern rasch, doch nicht alle vermochten davon zu profitieren.
So nah und doch so fern?
Unter Corbyn sei Labour «so nahe an der Macht», dass der Parteichef diese «fast berühren kann», schrieb die Sunday Times gestern. So nah und vielleicht doch so fern, möchte man entgegnen, denn Zweifel an Corbyns möglichem Triumph bleiben. Theresa May, die konservative Premierministerin, dürfte fester im Sattel sitzen, als viele glauben, denn nichts fürchten ihre Parteikollegen mehr als Corbyn in 10 Downing Street. Und ob sich die derzeitige Euphorie um den Labour-Chef bis zum nächsten planmässigen Wahltermin im Frühsommer 2022 am Leben halten lässt, ist mehr als ungewiss.
Hinzu kommt der Brexit, der auch für Labour ein ungelöstes Problem darstellt: Alte Linke wie Corbyn und die Wähler in den ehemaligen Bergbaurevieren Nordenglands sind für den Austritt aus der Europäischen Union. Für die jungen Aktivisten, die den Parteichef stützen, stellt die EU dagegen den Inbegriff von Fortschritt und Internationalismus dar. Früher oder später wird dieser Konflikt ausgetragen werden müssen.
In den Umfragen führt Labour derzeit, doch nur mit wenigen Prozentpunkten. Ist dies wirklich so beeindruckend? Verglichen mit der SPD: ja. Aber angesichts einer schwachen Regierung? Man könnte die Zahlen auch anders interpretieren: Corbyn vermag derart wenig zu überzeugen, dass selbst Theresa May fast gleichauf liegt.
Vielleicht werden Wahlen am Ende ja doch in der Mitte gewonnen.
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