Die Atemlosigkeit beim Öffnen des Himmelstors
Vor 40 Jahren bestiegen Reinhold Messner und Peter Habeler den Mount Everest erstmals ohne Sauerstoffgerät.

Alle paar Jahrzehnte vielleicht sprengen Individuen jene Grenzen, in denen der Mensch physisch und psychisch gefangen zu sein scheint, und es ist dann für einen Moment, als ob der Menschheit Flügel gewachsen seien. Jene, die den Menschen in eine neue Dimension katapultieren und je nach Vorhaben den Tod in Kauf nehmen, nennen wir dann Helden oder Wahnsinnige und verewigen sie in Geschichtsbüchern und verweben sie unsterblich in unsere kollektiven Legenden.
8. Mai 1978, 13.15 Uhr. Auf dem Gipfel des Mount Everest ist ein chinesisches Vermessungszeichen im Schnee verankert, ein hüfthoher Dreifuss. Eine Expedition hatte es 1975 dort angebracht, und seither lassen sich Bergsteiger davor fotografieren, um zu beweisen, dass sie den Gipfel des höchsten Berges erklommen haben. Das Wetter auf dem Gipfel ist gut am 8. Mai vor 40 Jahren. Die Wolken liegen unter den beiden Bergsteigern, aber die Wetterlage ist instabil. Mehr Wolken jagen aus Südwesten heran, und Südwesten ist die Schlechtwetterecke des Himalayas. Auf dem Gipfel kniet der Südtiroler Reinhold Messner, 34 Jahre alt ist der damals, und wartet auf den Österreicher Peter Habeler, der zwei Jahre älter ist und der auf allen vieren vorwärtskriecht, vorwärts, immer vorwärts. Vorwärts ist das Einzige, was sein Hirn noch zustande bringt in dieser Zone, in der dem Leben die Luft ausgeht und der Tod weht. Habeler hat keine Ahnung mehr, wo er ist und wer er ist. Er ist ausserhalb von sich selbst und eins mit allem. Habeler hat das Gefühl, dass ein anderer, der sein Ich ist, an seiner Stelle geht.
Blindes, wortloses Verständnis am Berg
Die beiden verstehen sich, ohne sich zu kennen. Vor dem Everest bestiegen sie den 8068 Meter hohen Hidden Peak ohne Sauerstoff und scheiterten an der Südwand des Dhaulagiri. Sie trainieren getrennt, sind in der gegenseitigen Kommunikation meist so wortlos wie ein Berg. Habeler glaubt an Gott, Messner nur an sich selbst. Habeler führt auf dem Weg vom Lager V zum Hillary-Step, Messner ist als Erster auf dem Gipfel. Beim Training im Himalaja rennt Habeler in 30 Minuten auf einen Hügel und zurück, Messner will es in 29 schaffen. Messner ist eine Sonne im Universum des Bergsteigens, Habeler ein Mond, aber nur, weil er sich nie ins Licht drängt. Messner wird ein Weltstar, Habeler bleibt Bergführer und gründet eine Skischule. Was sie verbindet, ist blindes, wortloses Verständnis am Berg. Sie reden in ihren Gedanken miteinander, wenn sie in der Todeszone sind. Sie führen unausgesprochene Dialoge, von denen jeder der beiden nachher sagt, sie seien wie real gewesen. Und Habeler ist einer der wenigen, die Messners Tempo gehen können.
Kurz nach dem Hillary-Step, rund 100 Meter unter dem Dach der Welt, hatte Habeler einen Krampf in der rechten Hand, das riss ihn aus den transzendentalen Sphären, und die Wirklichkeit war Todesangst. Noch nie waren Menschen ohne künstlichen Sauerstoff in dieser Höhe gewesen, 8500 Meter war die Grenze vor diesem 8. Mai, erreicht hatten sie die britischen Bergsteiger George Mallory und Andrew Irvine 1924, jedenfalls gehen die Vermutungen in diese Richtung. Zuletzt gesehen hatte man sie auf einer Höhe von 8150 Metern. Von dort wollten sie auf den Gipfel. Sie verschwanden in einer Wolke, und als die Wolke verschwand, waren sie verschwunden. Es ist bis heute eine der grössten Fragen im Alpinismus, ob sie den Gipfel erreicht haben könnten. Messner sagt klar Nein. Mit den Nagelschuhen wären sie nie in der Lage gewesen, den «Second Step» auf der Nordroute in 8610 Metern zu überwinden.
In der Todeszone
Auf der Südroute zieht Habeler seinen Überhandschuh aus und beginnt, seine Hand zu massieren. Löst sich der Krampf nicht, könnte er sich nicht mehr festhalten am Gestein, am Leben. Messner ist schon längst enteilt, ist irgendwo auf dem Gipfelgrat und in der Nähe der Unsterblichkeit. Der Krampf bei Habeler löst sich. Er fängt an zu beten, atemlos und keuchend, bittet darum, dass er hier oben nicht verrecken muss.
Dann kriecht er weiter, er sieht sich kriechen, von oben, der Seite, von unten, vorwärts, vorwärts, vorwärts, und dann sieht er Messner wieder und fällt zurück in die Wirklichkeit, und die Wirklichkeit ist, dass er und Messner als erste Menschen 25 Jahre nach der Erstbesteigung den 8848 Meter hohen Mount Everest ohne künstlichen Sauerstoff bestiegen haben. Die Menschen in den Tälern der Welt feiern es als Sieg, als Triumph des Menschen über die Materie auch. Für Habeler, den Mann in Messners Schatten, ist es kein Sieg. Der Everest, heute ein Berg, auf den fast jeder, der 70 000 Dollar bezahlt, heraufgeschleppt wird, und auf dem schon gut 4000 Menschen standen, sei nicht von ihnen besiegt worden, er habe sie lediglich geduldet. Wenn es etwas Siegreiches gegeben habe, dann das Besiegen des eigenen Körpers, die eigene Angst.
Das Leben in der Todeszone, die bei rund 7500 Metern über Meer beginnt und auf dem Gipfel des Mount Everest endet, ist ein langsames Sterben. Länger als vier Tage hat das noch kein Mensch überlebt, die meisten sterben spätestens nach 72 Stunden. Der Ausdruck stammt vom Genfer Alpinisten und Arzt Edouard Wyss-Dunant, der 1952 eine Schweizer Expedition leitete, die den Genfer Raymond Lambert und den berühmten Sherpa Tenzing, der ein Jahr später mit Edmund Hillary auf dem Gipfel stand, auf 8600 Meter brachte, weiter, als ein Mensch je gekommen war, sollten Mallory und Irvine nicht doch den Gipfel geschafft haben. Sie kehrten knapp 200 Meter unterhalb des Gipfels um, weil sie Angst hatten, ihr Sauerstoff könnte nicht reichen.
Unmenschlicher Zwang, weiterklettern zu müssen
Als Messner und Habeler sich auf dem Gipfel umarmen, als sie weinen, sich auf die Schulter klopfen, ein Stück Seil an dem Dreifuss anbringen als zusätzlichen Beweis, dass ihnen das Unvorstellbare gelungen ist, als sie da oben stehen, vielleicht als 60. und 61. Mensch überhaupt, befreit, wie Habeler sagt, vom unmenschlichen Zwang, weiterklettern zu müssen, als sie nach Luft japsen und als ihr Hirn registriert, dass sie wieder hinunter müssen, durchlebt Habeler eine Ernüchterung, die so tief ist wie der Mount Everest hoch. «Etwas», schrieb er, «das mich angefüllt hatte, war ausgeronnen, und ich war erschöpft und hohl. Kein Gefühl des Triumphes oder des Sieges. Ich wusste, ich stand auf dem höchsten Punkt der Erde. Aber es war mir gleichgültig. Ich wollte nur noch zurück, zurück in jene Welt, aus der ich gekommen war. So schnell wie möglich.»
Jene Macht, die ihn auf den Gipfel getragen hatte, dieses «vorwärts, vorwärts» war nun eine des «abwärts, abwärts». Zuerst bis ins Lager IV auf 8000 Metern, wo die Todeszone ein wenig mehr Leben versprach. Habeler rutscht auf dem Hosenboden vom Südgipfel hinunter und kommt dabei fast ums Leben, Messner läuft. Und dann folgt das eigentliche Wunder, das nicht darin lag, dass die beiden entgegen der Meinung aller Ärzte und der meisten Bergsteiger die Besteigung ohne künstlichen Sauerstoff überleben könnten, und wenn doch, dann nicht ohne dass wichtige Teile ihres Hirnes auf der Strecke blieben und sie als Deppen ins Tal zurückkehren würden.
Mehr tot als lebendig
Das Wunder liegt darin, dass Messner überhaupt bei einem einsetzenden Sturm das Lager IV findet. Es ist nicht mal so gravierend, dass die Sicht immer schlechter wird, weil Messner ohnehin kaum mehr etwas sieht. Beim Fotografieren und Filmen auf dem Gipfel hat er die Schutzbrille abgelegt, und die hohe UV-Strahlung lässt ihn schneeblind werden. Er sieht alles nur noch verschwommen, wenn überhaupt, und hat höllische Schmerzen. Draussen tobt der Sturm, sie wissen nicht, ob nur diese Nacht oder vielleicht eine weitere oder vielleicht für immer. Die beiden Männer sind dehydriert, sie sehen aus wie Greise und fühlen sich wie auf dem Sterbebett.
Um sechs Uhr früh am 9. Mai verlassen sie ihr Zelt. Der Sturm tobt immer noch, aber sie hätten einen weiteren Tag und eine Nacht im Zelt nicht überlebt. Sie machen sich auf den Abstieg zum Lager III auf gut 7000 Metern. 1700 Meter über dem Basislager gelegen. Und der Mann, der stets und zu Unrecht als der Mann im Schatten Messners galt, brachte den schneeblinden Messner in seinem Schatten sicher ins Lager III. Und von dort in einer unendlichen Tortur in die Lager II und I und von dort schliesslich am 10. Mai ins Basislager, wo sie drei, vier Tage brauchten, um die Luft des Lebens wieder in ihre Körper und Seelen zurückfliessen zu lassen. Egal, was der Welt und dem Menschen diese Besteigung gebracht hat; es war die Wahnsinnstat von zwei Helden.
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