Die Angst vor dem Hängeparlament
Koalitionen sind den Briten fremd und suspekt. Am Donnerstag dürfte aber bei der Parlamentswahl keine Partei die absolute Mehrheit erreichen. Ein Hängeparlament droht – für die Briten eine Horrorvisionen.

Labour oder Konservative - das war in Grossbritannien jahrzehntelang die einzige Alternative, wenn es um die Regierungsbildung ging. Denn das reine Mehrheitswahlrecht, mit dem in 650 Wahlkreisen jeweils ein Bewerber mit einfacher Mehrheit zum Abgeordneten bestimmt wird, sichert in der Regel klare Verhältnisse im Londoner Unterhaus. Doch vor der Parlamentswahl am Donnerstag ist das alles infrage gestellt. Wegen des rasanten Aufstiegs der Liberaldemokraten in der Wählergunst droht ein «Hängeparlament».
In den meisten europäischen Ländern ist es wegen des Verhältniswahlrechts der Normalzustand, dass keine Partei die absolute Mehrheit erreicht. In Grossbritannien ist dies in der Nachkriegsgeschichte indes nur 1974 einmal passiert, woraufhin die Labour Party unter Harold Wilson eine Minderheitsregierung bildete. Koalitionen sind den traditionsbewussten Briten fremd und suspekt. Sie verbinden damit lediglich Horrorvisionen von Kuhhandel, Mauschelei und permanenter Lähmung der Regierungsarbeit.
Wirtschaftsexperten warnen bereits vor neuen Turbulenzen an den ohnehin angeschlagenen Finanzmärkten, sollte die Unterhauswahl am kommenden Donnerstag keine eindeutigen Mehrheitsverhältnisse bringen. «Die Finanzwelt reagiert immer negativ auf Unsicherheiten», betont Mark Ostwald von Monument Securities. Politische Analysten merken beschwichtigend an, dass die Briten in der Wahlkabine zur Besinnung kommen und letztlich taktisch wählen könnten, um ein «Hung Parliament» zu verhindern. Dem widersprechen allerdings die Umfragen.
Wahlrechtsreform als Preis für Kooperation
Demnach haben die Liberaldemokraten unter ihrem erfrischend jugendlich wirkenden Parteichef Nick Clegg so stark aufgeholt, dass sie fast ein Drittel der Stimmen einheimsen könnten. Für die einstigen Whigs, die zuletzt in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine Regierung stellten, ist dies geradezu sensationell. Zwar dürften sie wegen des Mehrheitswahlrechts bei den Mandaten nur auf Platz drei landen, aber sie könnten erstmals die Königsmacher sein.
Somit stellt sich die Frage, mit wem die Liberaldemokraten wohl am besten zusammenarbeiten könnten. In der Wirtschaftspolitik neigen sie eher zu den Konservativen unter David Cameron, in der Sozialpolitik eher zu Labour unter Premierminister Gordon Brown. Beide schienen deshalb in jüngster Zeit darum bemüht, Clegg nicht allzu hart anzugreifen - sie könnten ihn ja noch brauchen. Der Liberaldemokrat wird indessen einen hohen Preis für seine Kooperation verlangen: eine Änderung des Wahlsystems, das seine Partei jahrzehntelang benachteiligt hat.
Welche Auswirkungen das Mehrheitswahlrecht haben kann, wurde an den am Sonntag veröffentlichten Umfragen zur Wahl deutlich: Obwohl die Liberaldemokraten landesweit 25 bis 29 Prozent der Stimmen erhalten dürften und damit in einigen Erhebungen sogar vor Labour lagen, werden ihnen maximal 90 Mandate vorhergesagt - deutlich weniger als den beiden anderen Parteien. Die Konservativen dürften bei der Wahl am Donnerstag 279 bis 311 Sitze erringen, die absolute Mehrheit von 326 Sitzen aber verfehlen. Labour käme mit 229 bis 261 Sitzen auf Platz zwei. Die Fairness des Wahlsystems steht damit öffentlich auf dem Prüfstand.
Spesenskandal hat Wähler desillusioniert
Das war zwar auch in der Vergangenheit schon der Fall, doch damals waren die Briten noch nicht so desillusioniert von ihren beiden grossen Parteien, die seit Jahrzehnten abwechselnd die Regierung stellen. Deren Ansehen hat in letzter Zeit deutlich gelitten - vor allem infolge des Spesenskandals. Labour- und Tory-Abgeordnete waren gleichermassen wegen strittiger und teilweise grotesker Spesenabrechnungen ins Visier geraten, während die Liberaldemokraten wenig betroffen waren und deshalb auch erhobenen Hauptes Veränderungen einfordern konnten.
Dies hat der Partei von Clegg einen hohen Sympathiegewinn eingetragen. Hinzu kam dann das brillante Abschneiden des 43-Jährigen bei den ersten Fernsehdebatten der drei Parteiführer. «Je mehr die beiden sich angreifen, desto ähnlicher wirken sie», sagte Clegg über seine Kontrahenten und stellte nach Meinung vieler Analysten überzeugend heraus, dass nur seine Partei einen wirklichen politischen Neuanfang bringen könnte.
Grundsätzlich in Frage gestellt
Da dies jedoch vom Wahlsystem verhindert werden dürfte, wird in Grossbritannien nicht mehr ausgeschlossen, dass eben dieses System jetzt grundsätzlich infrage gestellt werden könnte. Tory-Chef Cameron hat sich allerdings entschieden gegen ein Verhältniswahlrecht ausgesprochen. Brown hat Bereitschaft zu gewissen Veränderungen - etwa einer 50-Prozent-Quote in den Wahlkreisen - signalisiert. Doch wie auch immer - vieles spricht dafür, dass nach dieser Wahl nicht mehr alles beim Alten bleiben kann.
ddp/David Stringer/bru
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