Die Allianz ist gefährdet
Die Nato war so erfolgreich, dass ihr zeitweise die Gegner abhandenkamen. Das hat sich gründlich geändert – nicht nur wegen Russland.

Die Zahlen sprechen für die Nato. 70 Jahre ist das Bündnis jetzt alt, keine Militärallianz in der Geschichte war so langlebig und erfolgreich. 930 Millionen Menschen leben in ihren 29 Mitgliedsländern, sie produzieren die Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung. Dass seit dem Zerfall der Sowjetunion 13 mittel- und osteuropäische Staaten der Nato beigetreten sind, zeigt ihre ungebrochene Attraktivität. Zwölf Staaten waren es zu Beginn, am 4. April 1949. Nordmazedonien wird bald Mitglied Nummer 30.
«Bei uns gibt es keinen Brexit, mehrere Länder wollen rein in die Nato», sagt Ben Hodges vom Thinktank Cepa. Der General war bis Ende 2017 Oberbefehlshaber der US-Landstreitkräfte in Europa. Er weiss, was die Nato den Osteuropäern bedeutet: Schutz durch Amerika.
Lastenteilung gefordert
So entbehrt es nicht der Ironie, dass ausgerechnet zum runden Geburtstag eine existenzielle Gefahr für das Bündnis in Washington lauert, mitten im Weissen Haus. «Die grösste Herausforderung ist, dass erstmals ein US-Präsident die Nato nicht aus Überzeugung unterstützt und anführt», schreiben Nicholas Burns und Douglas Lute, zwei ehemalige US-Botschafter bei der Nato, in einer Studie mit dem Titel «Allianz in der Krise».
Was Donald Trump stört, ist bekannt: Die Verbündeten in Europa nutzen Amerikas Stärke angeblich aus und investieren zu wenig in ihre Armeen. «Lastenteilung» heisst das heikle Thema im Nato-Sprech, und es wird ab heute beim Treffen der Nato-Aussenminister in Washington viel Raum einnehmen.
Ex-General Hodges sieht es so: «Natürlich hilft es nicht, wenn ein US-Präsident Artikel 5 infrage stellt, wonach ein Angriff auf ein Nato-Mitglied als Angriff auf alle zu werten ist.» Das hatte Trump 2018 getan, als er über Neumitglied Montenegro sprach. Wichtiger ist für Hodges aber, dass Washington weiterhin Soldaten und Ausrüstung verlagere und viel Geld investiere: Allein 2019 steckt Washington 6,4 Milliarden Dollar in die «European Deterrence Initiative», ein bereits vor fünf Jahren verabredetes Programm.
Ambitionierte Ziele
Wer damit abgeschreckt werden soll, ist klar: Russland. Bereits der Georgien-Krieg 2008 nährte die Zweifel an Russlands Friedfertigkeit. Die von Präsident Wladimir Putin 2014 angeordnete Annexion der zur Ukraine gehörende Halbinsel Krim hat die Nato gezwungen, sich zu reformieren und wieder mehr in ihre Defensivfähigkeiten zu investieren. Dieser Prozess wird noch Jahre dauern, die Zwischenbilanz aber kann sich sehen lassen. In allen baltischen Staaten und in Polen sind multinationale Kampfverbände mit etwa tausend Soldaten stationiert.
Die Ziele sind ambitioniert: Schon im nächsten Jahr will die Nato sicherstellen, dass 30 Infanteriebataillone, 30 Kampfschiffe und 30 Kampfflugzeugstaffeln innerhalb von nur 30 Tagen einsatzbereit sein können. Dass diese – teure – Selbstverpflichtung der Staats- und Regierungschefs vom Juli 2018 kaum bekannt ist, liegt an Trump: Dessen Drohung, aus der Allianz auszusteigen, dominierte die Berichterstattung über den damaligen Nato-Gipfel. Alle tatsächlichen Beschlüsse rückten in den Hintergrund.
In Washington werden die Aussenminister zudem über Moskaus hybride Kriegsführung diskutieren, also über Geheimdienstoperationen und Hacker-Angriffe. Desinformationskampagnen in sozialen Netzwerken sollen Wahlen beeinflussen und die Einheit der Partner untergraben. Die Nato will die eigenen Cyberfähigkeiten, sowohl defensiv als auch offensiv, professioneller machen. Das wird auf Jahre eine Priorität des Bündnisses sein.
Neue Bedrohungslage
Thema ist auch der Vertrag zum Verbot von Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern, den Moskau nach Überzeugung Washingtons seit Jahren bricht und den einseitig zuerst die USA und dann wenig später Russland aufgekündigt haben. Nach erstem Entsetzen über Trumps anfänglichen Alleingang stehen die Partner hinter Washington. Beschlüsse allerdings werden die Minister nicht treffen. Allerdings werden sie die neue Bedrohungslage analysieren, in der russische Atomraketen nahezu jeden Punkt Europas treffen können. «Für uns ist das nicht neu, aber die Südeuropäer nehmen Russland plötzlich anders wahr», sagt dazu ein osteuropäischer Top-Diplomat.
Und fast unbemerkt ist noch eine weitere Macht in den Fokus der Militärallianz gerückt: China. Die Trump-Regierung sieht Chinas Seidenstrassen-Initiative mit grosser Skepsis und warnt die Europäer davor, bei wichtigen Infrastrukturprojekten mit dem Land zusammenzuarbeiten.
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«Ich bin besorgt über Trumps Haltung zur Nato»

Die Nato wurde nach dem Zweiten Weltkrieg mit 12 Mitgliedern gegründet. Heute sind es 29. Nicholas Burns, warum reden Sie trotzdem von einer «Allianz in der Krise»?
Wir glauben fest an die Nato und kennen ihre Bilanz. Sie war sehr erfolgreich, um Deutschland im Kalten Krieg zu verteidigen und die Wiedervereinigung zu ermöglichen. Die Nato hat Freiheit und Sicherheit nach Zentral- und Osteuropa gebracht – zusammen mit der EU. Die ehemaligen Staaten des Warschauer Pakts sind heute geschützt vor russischer Einschüchterung; Estland, Lettland und Litauen sogar vor russischer Vorherrschaft. Wir sprechen von einer «Allianz in der Krise», weil es erstmals seit 70Jahren einen US-Präsidenten gibt, der die Nato nicht aus Überzeugung unterstützt und anführt.
Trump hat die Nato als «obsolet» bezeichnet.
Seine Haltung gegenüber der Nato ist bestenfalls ambivalent, und die EU betrachtet er als Gegner. Das besorgt uns. Der zweite Krisenfaktor ist Deutschland. Es müsste 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts in Verteidigung investieren – und nicht 1,23 oder 1,37 Prozent. Der dritte Faktor ist Russlands hybride Kriegführung. Im konventionellen militärischen Sinne ist die Nato viel stärker, also weicht Moskau aus auf Geheimdienstoperationen, Cyber-Angriffe und nutzt Social Media, um Wahlen zu beeinflussen. Dass all diese Herausforderungen gleichzeitig auftreten, macht die Lage so schwierig – und wir sind schlecht gerüstet. Das gilt auch für den letzten Punkt: Es braucht eine gemeinsame Haltung gegenüber China, der zweiten militärischen Supermacht des 21. Jahrhunderts.
Andere Nato-Staaten erreichen das 2-Prozent-Ziel auch nicht, warum steht Deutschland so im Fokus?
Deutschland ist der Grundpfeiler in Europas Architektur, ohne den es keine Stabilität gibt. Es ist das mächtigste und wirtschaftlich stärkste Land der EU. Was ich sage, mag in Deutschland kontrovers klingen: Kanzlerin Angela Merkel wird von Demokraten und Republikanern weiterhin bewundert. Viele sehen in ihr die Verkörperung der westlichen Werte. Sie bietet Putin die Stirn, anders als Trump. Merkel ist die moralische Anführerin des Westens, aber das steht in Gefahr, weil ihre Regierung die Verteidigungsausgaben nicht erhöht angesichts der Gefahren durch Russland. Wenn das Vorbild Deutschland hier versagt, dann ziehen andere nicht mit.
Hat die Geduld der Amerikaner mit Deutschland langsam ein Ende?
Ich wurde gerade in Washington im Repräsentantenhaus zu den transatlantischen Beziehungen befragt. Es gibt hier weiterhin viele Freunde Deutschlands, aber der Frust über Berlin nimmt zu. Deutschland bringt sich zu wenig ein, anders als Polen, Frankreich oder Grossbritannien.
Sie fordern die Nato-Mitglieder auf, nicht zu ignorieren, dass die Demokratie in den Partnerstaaten Ungarn, Polen und Türkei ausgehöhlt wird. Warum ist Rechtsstaatlichkeit wichtig für ein Militärbündnis?
Die Nato ist auch eine politische Allianz! Der zweite Satz des Washingtoner Gründungsvertrags beruft sich seit 1949 auf «Demokratie, Freiheit der Person und Herrschaft des Rechts». Das darf man nicht zur Seite wischen. Bisher hat die Nato keinen Mechanismus, um mit autoritären Regierungen umzugehen. Die Angst vor Spaltung ist gross.
Der US-Aussenminister Mike Pompeo wird am Mittwoch beim Nato-Treffen in Washington auch den Aufstieg Chinas ansprechen. Wieso ist das ein Thema für die Nato?
Es stimmt, dass die Nato auf Europa und Nordamerika geografisch begrenzt ist. Die Nato muss sich mit China beschäftigen, denn das Land ist nicht nur Handelspartner und wichtig für den Kampf gegen Klimawandel, sondern investiert über die Seidenstrassen-Initiative in europäische Infrastruktur. Die EU-Staaten dürfen vor allem die Häfen nicht einer autokratischen Regierung überlassen.
Die Häfen sind nötig, um militärisches Gerät aus den USA nach Europa zu bringen.
Genau, deswegen ist Norddeutschland ebenso von Bedeutung wie Piräus in Griechenland oder Italiens Häfen. Daher ist Roms Einstieg in Pekings Initiative so kritisch zu sehen. Wir müssen auch wachsam gegenüber China sein, weil sich in den nächsten zwei Jahrzehnten Kriegführung und Militärtechnik revolutionieren werden. Peking macht enorme Fortschritte.
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