Neues Museum in BerlinDeutsche Schuld und deutsches Leid unter einem Dach
Um keinen Erinnerungsort wurde giftiger gestritten als um jenen für die Millionen von Deutschen, die am Ende des Zweiten Weltkriegs aus Osteuropa vertrieben wurden. Nach mehr als 20 Jahren wird das Zentrum jetzt eröffnet.

«Wir warteten auf ein Wunder», erzählt Huyen Tran Chau. In einem lecken Boot, den Tod vor Augen, floh die Vietnamesin Anfang der 80er-Jahre übers Meer. Dann traf tatsächlich ein Wunder ein – in Form der Cap Anamur, des Rettungsschiffes von Rupert Neudeck. Der deutsche Aktivist hatte als Kind selbst in Not seine Heimat verlassen müssen: 1945, als er mit seiner Mutter und vier Geschwistern vor der Roten Armee aus Danzig floh.
Zwei Schicksale von Vertriebenen, gegen alle Wahrscheinlichkeit ineinander verschlungen – das neue Dokumentationszentrum «Flucht. Vertreibung. Versöhnung» in Berlin setzt von Beginn weg den passenden Ton. Ja, es geht um die 14 Millionen Deutschen, die am Ende des Zweiten Weltkriegs aus Osteuropa vertrieben wurden: aus Ostpreussen und Pommern, aus Schlesien, Böhmen oder Mähren, aus dem Baltikum, den Karpaten oder Bessarabien. Und zugleich um viel mehr als sie – um die Katastrophe, die eine Flucht immer bedeutet, wen immer es trifft.
Seit 1999 wurde in Deutschland um einen Erinnerungsort für die Vertriebenen gerungen. Die Aufgabe schien fast unlösbar schwierig: Wie sollte man des deutschen Leids gedenken, ohne in den Verdacht zu geraten, deutsche Schuld relativieren zu wollen? Oder deutsche Täter und Opfer miteinander zu verrechnen?

Den Anstoss gaben zwei politische Antipoden: Erika Steinbach und Peter Glotz. Die konservative Christdemokratin wurde 1945 aus dem heute polnischen Danzig vertrieben, der linke Sozialdemokrat aus dem heute tschechischen Sudetenland. Steinbach, bis 2014 Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, war schon in Deutschland höchst umstritten – und für Polen, Tschechinnen oder Ungarn schlicht ein rotes Tuch. So hatte sie 1990 gegen die neue Grenze an Oder und Neisse gestimmt, mit der das wiedervereinigte Deutschland den Verlust seiner östlichen Landesteile erstmals offiziell anerkannte.
Einer Lösung näher kam man erst 2005, als die neue christdemokratische Kanzlerin Angela Merkel mit den Sozialdemokraten übereinkam, die Erinnerung an die deutschen Vertriebenen in eine europäische Vertreibungsgeschichte einzubetten. Aber auch danach wurde noch mehr als ein Jahrzehnt über fast alles gestritten: Ton und Inhalt, Direktion, Stiftungsrat und wissenschaftlichen Beirat.
Diese Woche wird das Museum nun endlich eröffnet, im sogenannten Deutschlandhaus in der Nähe des Potsdamer Platzes. In diesem Gebäude wachte das nationalsozialistische Regime ab 1939 über die «Festigung des deutschen Volkstums», hier nahmen in den 60er-Jahren die West-Berliner Vertriebenenverbände Einsitz. Nun also wird es zum Ort, an dem an die Vertreibung erinnert wird.

Auch der Termin wurde sorgsam gewählt: Am Sonntag war Weltflüchtlingstag, am Montag fand der Festakt zur Eröffnung statt, am Dienstag jährte sich der deutsche Überfall auf die Sowjetunion zum 80. Mal, heute Mittwoch öffnet das Museum für das Publikum. Merkel sprach zur Eröffnung ein Grusswort, Steinbach, die 2017 im Streit mit deren Flüchtlingspolitik aus der CDU ausgetreten war und seither der AfD nahesteht, war nicht eingeladen.
Die Dauerausstellung besteht im Grunde aus zwei Ausstellungen auf zwei separaten Stockwerken. Im ersten Stock wird die europäische Vertreibungsgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts dargestellt. Man lernt dort nicht nur die Vietnamesin Huyen und den Deutschen Neudeck kennen, sondern erfährt auch, wie am Ende des Ersten Weltkriegs ethnische «Säuberungen» zu einem bevorzugten Mittel nationalistischer Politik wurden.
1939 bis 1948 wurden allein in Europa rund 60 Millionen Menschen vertrieben – erst durch Hitlers und Stalins mörderische Politik, nach der deutschen Niederlage als Folge der neuen Bevölkerungspolitik der alliierten Kriegsgewinner. Die Ausstellung reicht bis in die Gegenwart, zur Vertreibungsgeschichte der Balkankriege nach 1990 etwa oder zu jener des syrischen Bürgerkriegs seit 2011.

Eine steile Wendeltreppe führt in den zweiten Stock, in dem die Geschichte der vertriebenen Deutschen im Vordergrund steht. Zuerst werden Hitlers Eroberungs- und Vernichtungskriege in Osteuropa dargestellt, anschliessend die Vertreibungen der damals im Osten lebenden Deutschen, die letztlich deren Folge waren. Auch die Frage, wie unwillig die fremden Deutschen aus dem Osten in BRD und DDR aufgenommen wurden, erhält breiten Raum.
Die Ausstellung legt viel Wert auf Gegenstände, die persönliche Geschichten erzählen: einen Pelzmantel etwa, dem eine Schwangere ihr Überleben im Winter verdankte, eine Armbinde, mit der sich Deutsche in den Ostgebieten kennzeichnen mussten, ein Besteckmesser, das eine Mutter ihrer 16-jährigen Tochter mitgab, um sich auf der Flucht zu verteidigen. Und einen der ikonisch gewordenen Leiterwagen, auf dem die Vertriebenen ihre letzte Habe transportierten.
Eine «Geschichts-Meile» entsteht
Das Zentrum will ausdrücklich nicht nur ein Museum, sondern auch ein Lern- und Dokumentationsort sein: Dazu dienen die grosszügige Bibliothek, ein Audio- und Videoarchiv mit 700 Zeitzeugnissen, Datenbanken für Recherchen über Angehörige, ein Forum für Kommentare und Fragen und ein Raum der Stille für ein würdiges Angedenken.
Das neue Museum fügt sich in Berlin in ein erinnerungskulturelles Ensemble ein, das ständig wächst: Unweit liegen bereits die «Topographie des Terrors» auf dem Gelände der einstigen Zentrale der Geheimen Staatspolizei, das Mahnmal, das an die Ermordung der Juden Europas durch die Deutschen erinnert, sowie das Jüdische Museum. Gleich gegenüber vom Vertriebenen-Zentrum entsteht im ehemaligen Anhalter Bahnhof bis 2025 ein Museum zum Thema Exil.
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