Von «waghalsig» bis «beglückend»Deutsche Presse begutachtet den Schweizer Sonderweg
Die Schweiz und Deutschland verfolgen verschiedene Corona-Strategien. Journalisten versuchen, sich ein Bild zu machen – und sparen nicht mit helvetischen Klischees.

Eine ähnlich hohe Inzidenz wie Deutschland, aber eine entgegengesetzte Corona-Politik: Mit einer Mischung aus Verwunderung, Irritation, bisweilen aber auch Sehnsucht blicken derzeit deutsche Medien auf die Schweiz. «Die Schweizer befinden sich seit einigen Wochen inmitten der dritten Welle der Pandemie, und trotzdem hat die Regierung weitreichende Lockerungen beschlossen», hält die «Badische Zeitung» in einer Reportage aus dem offenen Basel fest.
Seit dem 19. April dürften Restaurants ihre Aussenbereiche wieder öffnen, Kinos, Theater, Konzerthäuser würden Veranstaltungen mit begrenzter Besucherzahl durchführen, wird die badische Leserschaft informiert. «Der Kontrast zu Deutschland, wo gerade die Bundesnotbremse beschlossen worden ist, könnte nicht grösser sein.» Zugleich wird in dem Bericht vom 2. Mai darauf hingewiesen, dass erst die kommenden Wochen zeigen würden, «wie weit die Schweizer mit ihrer Eigenverantwortung auf ihrem Sonderweg kommen». Als Grund für den Lockerungskurs werden die «Stimmung in der Bevölkerung» und «der massive Druck durch die Wirtschaftsverbände» angegeben.
«Es ist mutig, was die Schweiz macht; ich würde vielleicht sogar sagen, es ist waghalsig.»
«Spiegel online» hat am Wochenende einen Podcast mit dem Titel «Neue Schweizer Lockerheit – und schwedische Vorsicht» publiziert. Darin nimmt der Leiter des «Spiegel»-Auslandressorts, Mathieu von Rohr – selbst Schweizer –, eine Einschätzung vor. Für den Öffnungskurs der Eidgenossenschaft macht er «eine Mischung aus Frühlingsgefühl, Impffortschritt und dem öffentlichen Drang, Freiheiten wiederherzustellen» verantwortlich. Dieser Mix führe dazu, dass Warnungen vor möglicherweise überstürzten Lockerungen nicht mehr verfangen würden. «Es ist mutig, was die Schweiz macht; ich würde vielleicht sogar sagen, es ist waghalsig.»
Raclette oder Rösti
Geradezu ins Schwärmen gerät Jakob Strobel y Serra, stellvertretender Feuilleton-Chef der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», bei seinem Besuch in Zürich. «Die ganze Stadt scheint nur auf diesen Augenblick gewartet zu haben und sitzt jetzt geschlossen auf den Terrassen der Restaurants, Bars und Cafés», berichtet er. Die Menschen würden bereits mittags Wein trinken sowie «Raclette oder Rösti» essen.
Ihn beschleiche ein «seltsam bedrückend beglückendes Gefühl, weil diese Menschen uns zeigen, in welch seltsamer Welt wir in Deutschland gerade leben und in welcher viel schöneren wir doch leben könnten», so der Autor. Insbesondere die helvetische Apérokultur scheint es ihm angetan zu haben, kommt er doch in seinem dithyrambischen Bericht wiederholt darauf zu sprechen. Die Eidgenossen schienen eben «zu wissen, was Eigenverantwortung und Risikoabschätzung sind, sie wägen ab zwischen realistischer Gefahr und eingebildeter Bedrohung. Deswegen sitzen sie draussen auf den Terrassen und trinken Wein.»
Simon Bordier ist Nachrichtenredaktor und Kulturjournalist bei der «Basler Zeitung». Er begann 2013 als freier Autor bei der «Luzerner Zeitung», 2015 stiess er zur BaZ.
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