Umstrittenes Finale in LüttichDer Weltmeister bringt Marc Hirschi um den grössten Sieg
Dem Berner bleibt im belgischen Radmonument nur Platz 2 – weil Julian Alaphilippe im Sprint rücksichtslos agiert. Jetzt hat der Aufsteiger dieser Saison Ferien.
Es ist Marc Hirschis letzter Arbeitstag vor den grossen Ferien – am Montag beginnt seine Saisonpause. Es ist sein 30. Renntag in 64 Tagen, seit dem Saisonneustart am 1. August. 2019 kam er auf 56 Renntage – aber über 235 Tage verteilt. Hirschi könnte also zu Recht müde sein nach diesen gut zwei Monaten Nonstop-Action. Nach Tour-Etappensieg, WM-Bronze, Sieg bei der Flèche Wallonne.
Doch er ist bereit für einen letzten Exploit in dieser komprimierten Saison, in der sich für ihn alles geändert hat. Innert zwei Monaten ist er vom Nachwuchstalent zum Mann für die grossen Rennen geworden, mit 22.
Hirschi schaut auf Alaphilippe – und der schaut auf Hirschi
Hirschi scheint dieser enorme Sprung am allerwenigsten zu erstaunen, jedenfalls fährt er auch bei Lüttich–Bastogne–Lüttich, dem ältesten Eintagesrennen im Kalender, als hätte er dieses schon zig Male bestritten. Tatsächlich ist es erst seine zweite Teilnahme.
Und er weiss sehr genau, worauf er achten muss: auf Julian Alaphilippe, der eine Woche nach seinem WM-Sieg in Imola die Premiere im Regenbogentrikot feiert. Alaphilippe geht es genauso: Er sieht Hirschi als seinen Hauptrivalen und behält ihn ebenso im Auge.

Das führt dazu, dass auch alle anderen warten. Niemand will etwas wagen, erst in der drittletzten Steigung des Tages, der Côte de la Redoute, lockern die Favoriten erstmals die Beine. Schulter an Schulter erklimmen Hirschi und Alaphilippe den Anstieg. Nun verbleiben sie in den vordersten Positionen, bis zum Falkenfelsen, der Côte de la Roche aux Faucons. Jetzt tritt Alaphilippe an – es ist ein Déjà-vu, eine Kopie seines Angriffs an der WM. Nur: Dieses Mal kann die Konkurrenz reagieren. Hirschi ist es, der fast schon mühelos zum Franzosen aufschliesst, wenig später kommt noch das slowenische Tour-de-France-Duo Tadej Pogacar und Primoz Roglic dazu. Hirschi versucht es noch mit einem Konter, dann fahren sie aber zu viert Richtung Lüttich.
Das Quartett schafft es, die 20 Sekunden Vorsprung bis auf die Zielgerade zu verteidigen. Dort schliesst zwar von hinten noch Matej Mohoric auf, kann aber im Endspurt nicht mehr mitmischen. Alaphilippe ist nervös in diesem Finale, nervöser als sonst, macht es den Eindruck. Früh im Rennen war er in einen Sturz verwickelt, wechselte Velos und Schuh. In der letzten Kurve vor der Zielgerade kommt er nur mit Glück um einen Sturz herum, weil er zurück statt auf Hirschis Hinterrad schaut.
Seine Nervosität bleibt. Er lanciert den Sprint, mit Hirschi am Hinterrad. Der Ittiger lässt sich nicht mehr düpieren wie noch an der Tour de France, auf der zweiten Etappe in Nizza, als Alaphilippe den Favoriten und Hirschi den kleinen Aussenseiter gegeben hatte. Nun sind sie sich ebenbürtig, Hirschi beschleunigt gar besser, beginnt links an Alaphilippe vorbeizuziehen – als der erst kurz zurückschaut und dann ebenfalls nach links zieht. So stark, dass sich ihre Räder touchieren und Hirschi froh sein muss, dass er nicht stürzt. Um das zu vermeiden, muss er aber aus der linken Pedale ausklinken, sein Sprint ist damit vorbei – genauso wie jener von Pogacar, der hinter ihm angetreten ist.
Hirschi wird seine Chancen auf Revanche erhalten
Alaphilippe ist siegessicher, hebt die Hände zum Jubel im Regenbogentrikot – und wird von Roglic, der als Einziger von der Aktion des Franzosen ungestört bleibt, auf der Ziellinie noch abgefangen. Der Slowene, an der Tour ähnlich spät von Pogacar entthront, feiert so 2020 doch noch einen grossen Sieg. Alaphilippe wird für seinen Schwenker auf Rang 5 zurückversetzt, später entschuldigt er sich.
Hirschi hilft das wenig. Ob er nun als Zweiter oder Dritter von Lüttich–Bastogne–Lüttich geehrt wird, ist einerlei. Was bleibt, ist einzig, dass er um eine grosse Chance auf den grössten Sieg seiner grossen Saison gebracht wurde. Nach dem Rennen kritisiert er Alaphilippe nicht, oder zumindest nicht deutlich. «Es ist ein bisschen Sch…», sagt er. «Wer weiss, was sonst passiert wäre. Aber am Schluss bin ich zufrieden. Weil ich mich sehr gut fühlte, weil mir das Zuversicht für die Zukunft gibt.» Er weiss nur zu gut: Das war nicht das letzte Duell mit Alaphilippe. Er wird seine Chancen auf Revanche erhalten.
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