Der Unverstandene
Nach seinem Leitartikel zur «No-Billag»-Initiative halten Journalistenkollegen Gerichtstag über NZZ-Chefredaktor Eric Gujer. Ihre Kritik offenbart analytische Impotenz – und zeigt das Ausmass der Polarisierung.

Auf dem Gymnasium hatte ich einen Geschichtslehrer, dessen Methode darin bestand, seine Schüler nicht etwa auswendig gelernte Fakten abzufragen, sondern ihnen Texte von Historikern vorzulegen. Die Fragen, die er dazu stellte, zielten darauf ab, dass wir den Inhalt in eigenen Worten wiedergaben, was es dem Lehrer ermöglichte, festzustellen, ob wir die Materie intellektuell durchdrungen hatten. Aus meiner Sicht hatte sein Ansatz zwei Vorteile: Zum einen erforderte er von uns ein Minimum an Vorbereitung, zum anderen, so bildete ich mir zumindest ein, waren die Intelligenteren unter den Schülern für einmal gegenüber den ausschliesslich Fleissigen im Vorteil.
Nicht wenige Schweizer Journalisten, so steht zu befürchten, wären an einer solchen, relativ simplen Prüfung kläglich gescheitert. Nachdem NZZ-Chefredaktor Eric Gujer am Samstag einen Leitartikel zur «No-Billag»-Initiative veröffentlicht hatte, hielten einige seiner Berufskollegen in den sozialen Medien derart fürchterlich Gerichtstag über ihn, dass man sich fragen musste, ob sie den Text nicht verstanden hatten oder nicht verstehen wollten. Gäbe es die SRG, deren derzeitiges Finanzierungsmodell die Initianten infrage stellen, nicht bereits, käme niemand auf die Idee, sie zu erfinden, schrieb Gujer: «Sie ist das Kind einer Zeit, in der Hitler und Stalin die neue Radiotechnik nutzten, um ihre Propaganda zu verbreiten, und ein demokratischer Staat wie die Schweiz mit dem Konzept der geistigen Landesverteidigung antwortete.» Einige zogen daraus allen Ernstes den Schluss, Gujer habe die SRG mit Hitler und Stalin gleichgesetzt.
Zunehmend hysterische Debatte
Für eine Berufsgruppe, die ihre Aufgabe darin sieht, das Weltgeschehen zu beobachten und zu beschreiben, war das eine bemerkenswert armselige Leistung. Sie passte allerdings zu einer Debatte, die vor allem auf Twitter, dem eigentlichen Forum der Branche, zunehmend hysterisch geführt wird. Differenziert wird dort schon lange nicht mehr: Wer nicht für die SRG ist, ist gegen sie – und wer den Sender kritisiert, wird umgehend vereinnahmt. Gujers Kommentar sei ein Kunstwerk, er habe ihn bereits dreimal gelesen, schrieb einer der führenden Vertreter des «No-Billag»-Lagers. Spätestens jetzt gehörte der NZZ-Chefredaktor für die Fans des «Teams SRG» zum «Team ‹No Billag›». Dabei hatte er keineswegs eine Annahme der Initiative empfohlen: Deren Initianten dächten ebenso in Schwarz-Weiss-Kategorien wie ihre strukturkonservativen Gegner, schrieb er.
Übers Wochenende schien sich Gujer dann entschieden zu haben, die Exegese seines Textes lieber selbst zu übernehmen: Ihm gehe es darum, dass sich die SRG im Internet und bei der Werbung selbst beschränke, erklärte er am Montag dem Branchendienst persoenlich.com – und darum, dass sich der Staat nicht in die Belange der privaten Medien einmische. Warum auch Zeitungsjournalisten derartig aggressiv gegen Gujer wüteten, bleibt rätselhaft: Davon, dass die SRG den Verlagen Raum zum Leben lässt, hängt nicht nur die viel beschworene Medienvielfalt ab, sondern letztlich auch Arbeitsplätze in den Redaktionen.
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