Der unheimliche Ort London
Eine Mord-Epidemie erschüttert die britische Hauptstadt. Gründe dafür könnten Budget-Kürzungen bei der Polizei sein, aber auch eine allzu strikte Einhaltung der Gebote der Political Correctness.

Selten dürfte eine Zeitung bei der Themensetzung erfolgreicher gewesen sein: Erstmals seit 1800 weise London eine höhere Mordrate auf als New York, vermeldete die Sunday Times am Ostersonntag. Seither steht das Thema auf der Tagesordnung ganz weit oben, sowohl bei den Medien als auch in der Politik. 15 Menschen waren im Februar in London getötet worden, in New York waren es im selben Zeitraum 14. Im März wurden in der britischen Hauptstadt 22 Morde gezählt – abermals einer mehr als in der amerikanischen Metropole. Aufs gesamte Jahr gesehen liegt New York allerdings weiter vorn. Zudem ist die Zahl der Mordfälle dort seit 1990 um 87 Prozent zurückgegangen.
Kritiker nahmen dies zum Anlass, der Zeitung eine konstruierte Geschichte vorzuwerfen: Der Vergleich sei willkürlich gewählt, und wenn überhaupt sei es eine New Yorker Erfolgsstory, über die zu berichten sei. Ein Vergleich über gerade einmal zwei Monate sei nicht sonderlich aussagekräftig, schrieb ein Kolumnist im Independent.
Tatsächlich spricht allerdings einiges dafür, dass es der Sunday Times gelungen ist, einem relevanten und bisher vernachlässigten Thema die Aufmerksamkeit zu verschaffen, die es verdient: Über 50 Morde hat London 2018 bereits zu verzeichnen – und das Jahr ist erst hundert Tage alt. Innerhalb der letzten drei Jahre stieg die Mordrate um 40 Prozent. Die Zahl der Messer-Angriffe ging letztes Jahr um 19 Prozent nach oben.
Etwas mehr als drei Fünftel der diesjährigen Todesfälle gehen auf Stichwunden zurück. Die Beteiligten sind meist unter 30, nicht selten auch minderjährig. Junge, schwarze Männer, oft afrokaribischer Herkunft, sind sowohl unter den Tätern als auch unter den Opfern deutlich überproportional vertreten. Von 108 Morden, die sich im vergangenen Jahr ausserhalb von Privathaushalten ereigneten, hatten mehr als die Hälfte mit Bandenkriegen oder Drogen zu tun.
Zwölfjährige als Drogen-Kuriere?
Der Labour-Politiker David Lammy, der den Nord-Londoner Wahlkreis Tottenham im Unterhaus vertritt, spricht im Guardian von elf Milliarden Pfund, die allein in London jährlich im Kokaingeschäft umgesetzt würden. Drogen seien so leicht zu bestellen wie eine Pizza; bereits Zwölfjährige übernähmen dabei Kurierdienste. Darüber hinaus brächten Gangs vom Balkan und aus Osteuropa Schusswaffen ins Land.
Praktisch täglich berichtet die Presse nun von weiteren Morden. Vollkommen neu ist deren Häufung allerdings nicht: Allein in der letzten Silvesternacht wurden vier Männer zwischen 17 und 20 erstochen. Letzte Woche wurden vier weitere junge Londoner getötet, das jüngste Opfer war 16 Jahre alt. Zwei der Morde ereigneten sich am Abend des Ostermontags. Aufsehen erregte vor allem der Tod der 17-jährigen Tanesha Melbourne-Blake. Sie war mit Freundinnen in Tottenham im Ausgang und wurde aus einem fahrenden Auto heraus erschossen. Derartige Drive-by-Shootings sind vor allem aus den USA bekannt. In Grossbritannien, wo ein relativ rigides Waffenrecht Anwendung findet, kamen sie bisher nur sehr selten vor. Die junge Frau war offenbar bei einem Bandenkrieg zwischen die Fronten geraten.
Betroffen von der Gewaltepidemie ist vor allem ein halbmondförmiger Bogen im Nordosten der Stadt, der von Tottenham über Walthamstow bis zur Themse hinunter nach Newham reicht.
Im Quartier Kentish Town, wo viele Somalier leben, die in den Neunzigerjahren vor dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat geflohen sind, fühlen sich die Anwohner vom Staat alleine gelassen. Wenn heute ein junger Somalier einen anderen bedrohe, gehe der nicht etwa zur Polizei, sondern lege sich ein Messer zu, erklärte im Februar ein Anwohner dem Observer. Selbst Zehnjährige seien bereits bewaffnet aufgegriffen worden. Bei den bisherigen Tätern und Opfern in Kentish Town handelt es sich um Somalier zwischen 16 und 21. Die meisten somalischen Dealer beginnen ihre Karriere mit dem Verkauf von Cannabis, später steigen sie auf Heroin um.
«Wo ist die Premierministerin?»
Mittlerweile ist um die Mordserie ein parteipolitischer Kampf entbrannt: Labour-Politiker werfen der konservativen Regierung vor, deren Budgetkürzungen hätten die derzeitige Situation herbeigeführt. «Wo ist die Premierministerin?», fragt der Labour-Abgeordnete Lammy rhetorisch. Sein Parteikollege, der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan, beklagt Kürzungen bei der Jugendarbeit, wo in London in den letzten sieben Jahren 22 Millionen Pfund eingespart wurden. Andere hingegen halten ausgerechnet Jugendzentren für Brutstätten der Kriminalität: «Jedes Jugendhaus bringt seine Gang hervor, und die bekämpfen sich dann gegenseitig», erklärte der Vater eines Mordopfers der BBC.
Auch Einsparungen bei der Polizei, die seit 2010 unter Premierminister David Cameron und ab 2016 unter seiner Nachfolgerin Theresa May vorgenommen wurden, werden den Tories nun zum Vorwurf gemacht. Die Zahl der Polizisten in London ging seit Camerons Amtsantritt um zehn Prozent zurück; dieses Jahr sollen laut Plan weitere 562 Stellen abgebaut werden. In einigen Londoner Bezirken würden die Beamten dann nicht mehr in der Lage sein, «das volle Angebot aller polizeilichen Dienstleistungen» jeden Tag rund um die Uhr anzubieten, heisst es laut Presseberichten in einem internen Report von Scotland Yard.
Bereits heute gibt es in kaum einem Land in Westeuropa weniger Polizisten pro Bürger als in Grossbritannien. In der Vergangenheit sprachen Tory-Politiker gern von einer Friedensdividende: Die Kriminalität gehe ohnehin zurück, folglich könne man bei der Polizei sparen. Diese Argumentation dürfte sich spätestens jetzt erledigt haben.
Einen weiteren wahrscheinlichen Grund für das Ansteigen der Mordrate verschweigen Labour-Vertreter lieber, doch auch einigen Konservativen müsste er peinlich sein: Ende April 2014, damals noch als Innenministerin unter David Cameron, hielt Theresa May eine viel beachtete Rede, in der sie die Stop-and-Search-Taktik der Polizei scharf kritisierte. Diese besteht darin, Passanten auf Verdacht hin anzuhalten und zu durchsuchen. In ihrem Bestreben, die Konservativen vom Image der Hartherzigkeit zu befreien, beklagte May, die Wahrscheinlichkeit, dass ein junger schwarzer Mann kontrolliert werde, sei sieben Mal höher als bei einem Durchschnittsbürger. Dies müsse sich ändern. Was die Zahlen betraf, hatte May recht, doch unterschlug sie die Tatsache, dass junge Schwarze in Vierteln mit hoher Kriminalitätsrate Abends eben auch überdurchschnittlich häufig auf der Strasse anzutreffen sind.
Angst vor Rassismus-Vorwürfen?
Seit Mays Rede werde die Stop-and-Search-Taktik von der Londoner Polizei nur noch halb so oft angewendet wie zuvor, sagte Cressida Dick, die Chefin von Scotland Yard, der Times. Polizisten hätten nun Angst davor, des Rassismus beschuldigt zu werden. Vor allem aber seien sie sich nicht mehr sicher, ob ihre Vorgesetzten ihnen in einem solchen Fall den Rücken decken würden.
Innenministerin Amber Rudd hat gestern eine Reihe von Massnahmen vorgestellt, um der Mord-Epidemie Herr zu werden: Im Internet bestellte Messer sollen künftig nicht mehr an Privatadressen verschickt werden dürfen; weitere Stichwaffen, Schlagringe sowie ätzende Säuren sollen verboten werden. Zudem will Rudd gegen die Verherrlichung von Gangkultur und Gewalt im Internet vorgehen.
Auch Scotland-Yard-Chefin Cressida Dick macht die sozialen Medien mitverantwortlich für die Gewalt: Meinungsverschiedenheiten eskalierten dort oft sehr rasch. Dass dafür auch archaische Ehrbegriffe mancher ethnischer Minderheiten verantwortlich sein könnten, sagte sie nicht. Das durfte sich das Publikum selber hinzudenken.
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