
Jahrzehntealte Hits erobern die Charts, die heutige Jugend entdeckt Kate Bush: Dank Streaming-Hits wie «Stranger Things» oder «The Crown» erlebt längst vergangene Popmusik ein Revival. Ganz vorne mit dabei, wenn auch etwas weniger beachtet und mit etwas anderem Sound als Stevie Nicks oder Metallica, ist die Comedy-Serie «Derry Girls».
In der britischen Produktion, in der vier junge Frauen aus Derry (und ein junger Engländer) in Nordirland durch ihren Teenager-Alltag in der katholischen Schule und während des Friedensprozesses navigieren, spielt Musik eine zentrale Rolle. Und wie es das Setting in den Neunzigerjahren so will, machen die Produzenten schamlos Gebrauch von all jener Musik, die man damals höchstens im Verborgenen gefeiert hat.
Die 90er waren für Teenager wie die Derry Girls oder den Autor dieses Textes ein popkulturelles Minenfeld. Ich kann ein Lied davon singen: In der norddeutschen Provinz, wo ich aufwuchs, fuhr alle zwei Stunden ein Bus zum nächsten Plattenladen. Informationen darüber, was gerade in war und was nicht, kamen aus der «Bravo» – in Ermangelung an echten Musikmagazinen im Dorfladen. Und der einzige Radiosender, der halbwegs coole Musik spielte, war Radio Bremen Vier.
No no, no no no no, no no no no, no no there’s no limit!
Erschwerend zur grundsätzlichen pubertären Verwirrung kam hinzu, dass die frühen Neunzigerjahre von einem musikalischen Aufbruch geprägt waren: Auf der einen Seite wurde elektronische Tanzmusik salonfähig, mit allen Irrungen und Wirrungen. Auf der anderen Seite fegten Nirvana scheinbar im Alleingang alles bisher Dagewesene weg. So kam es, dass ich – der einfach alles spannend fand, was neu und ungewöhnlich klang – «Smells Like Teen Spirit» ebenso in meine persönliche Heavy-Rotation nahm wie «Das Boot» von U 96.
Es gab natürlich Grenzen, die gezogen wurden von Gruppendruck und den Gesetzen der Coolness. Bestimmte Musik hörte man einfach nicht. Und wenn doch, dann nur heimlich. Hier kommt «Derry Girls» wieder ins Spiel. Die Serie verwischt die Demarkationslinien zwischen vermeintlich gutem und angeblich schlechtem Geschmack und wirft alles in einen Topf. Für den menschlich und musikgeschmacklich mittlerweile gefestigten Teenager von damals ist es ein Fest.
Freude bereiten natürlich die unbestrittenen Klassiker, die Musik-Checkerinnen mit Nordirland verbinden: «Teenage Kicks» von den Undertones, die Band selbst ein Gewächs der Stadt Derry. Oder «Alternative Ulster», die Punkhymne der Stiff Little Fingers aus Belfast, die Langeweile und Bedrohung in Nordirland auf den Punkt brachte: «Take a look where you’re livin’ / you got the army on the street / And the RUC dog of repression / Is barking at your feet / Is this the kind of place you want to live?» – «Schau dich um: Wo du lebst / ist die Armee auf der Strasse / Und der Polizeihund der Repression / bellt dich an / Ist das der Ort, an dem du leben willst?»
«Da, ba, da, dam, dee, dee, dee, da, dee, da, da, dam / Be my baby»
Dann sind da die Bands, die das Lebensgefühl der Neunzigerjahre eingefangen haben: die Cranberries, die Spice Girls oder Blur. Und zu guter Letzt sind da die vielen, vielen Leichen im Keller der Popmusik-Neunziger: Sie auszugraben, bereitet ungeahnte Freude.
Die beiden grossen britischen Boybands der Dekade, Take That und East 17, sind da nur die Spitze des Eisbergs. Wirklich ans Eingemachte geht es mit 2 Unlimiteds «No Limits» und C & C Music Factorys «Gonna Make You Sweat (Everybody Dance Now)»: Eurodance-Vertreter, die verstockten Gralshütern des Dancefloor vermutlich die Schamesröte ins Gesicht treiben. Oder das One-Hit-Wonder Whigfield mit ihrem ohrwurmigen «Saturday Night», das damals auf MTV gefühlt im Stundenrhythmus lief.
Die Liste der vermeintlichen Peinlichkeiten, die bei «Derry Girls» zu späten Ehren kommen, lässt sich beliebig erweitern: Right Said Fred, Ace Of Base, Scarlet mit «Independent Love Song» (das ich nicht so schlüpfrig in Erinnerung hatte), D:Ream … Doch was ist daran wirklich peinlich? Letzten Endes läuft hier in einer Serie, die die Neunzigerjahre als prägenden Abschnitt in der Geschichte eines Landes und dem Leben von fünf jungen Menschen zeigt, Musik aus ebendieser Ära.
Und so darf man sich auch als Zuschauer, der in dieser Zeit pubertierte, auf diese Stücke als eine gnadenlose Ballung an «guilty pleasures» einlassen. Ich habe mich heute Morgen beim Kaffeemachen dabei erwischt, wie ich EMFs «Unbelievable» von einer Derry-Girls-Playlist lauter stellte. Es war nicht alles schlecht früher.
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90er-Revival in «Derry Girls» – Der Soundtrack der Peinlichkeiten
Die Musik in der Serie «Derry Girls» klingt wie von pubertierenden Teenagern zusammengestellt – grossartig, findet unser Autor in einer persönlichen gefärbten Einschätzung.