Der Rechtsstaat Schweiz funktioniert
Der Fall Vincenz ist mit Vorsicht zu beurteilen. Ein Replik auf den Artikel «Wenn ein Staatsanwalt rotsieht».

Pierin Vincenz wird von der Zürcher Staatsanwaltschaft ungetreue Geschäftsbesorgung im Zusammenhang mit seiner früheren Tätigkeit als Raiffeisen-Chef vorgeworfen. In der Zwischenzeit wurde Vincenz festgenommen und sitzt seit geraumer Zeit in Untersuchungshaft. René Zeyer unterstellt in seinem Artikel der Zürcher Staatsanwaltschaft unlautere Methoden und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, wonach der Journalist nicht schweizerische, sondern chilenische Strafverfolgungsmethoden unter dem ehemaligen Diktator Augusto Pinochet beschreibt.
Die korrekte Durchführung eines Strafverfahrens ist vollständig klar und unmissverständlich in der Schweizerischen Strafprozessordnung geregelt und der Vorwurf, der zuständige Staatsanwalt wolle Vincenz weichkochen, ist absurd. Will ein Staatsanwalt, eine Staatsanwältin jemanden in Untersuchungshaft setzen, so muss nach der Festnahme – in der gesamten Schweiz und nicht nur in Zürich – bei Vorliegen eines Haftgrundes unverzüglich, spätestens aber nach 48 Stunden beim Zwangsmassnahmegericht Untersuchungshaft beantragt werden.
Weder Säuhäfeli noch Säudeckeli
Der begründete Antrag muss in schriftlicher Form erfolgen und die wesentlichen Akten müssen beigelegt werden. Daraufhin setzt das Zwangsmassnahmegericht eine Verhandlung an, an welcher die beschuldigte Person und sein Rechtsvertreter teilnehmen müssen. Ebenso kann eine Teilnahme der Staatsanwaltschaft gerichtlich verfügt werden.
Im Zeitrahmen von maximal weiteren 48 Stunden muss daraufhin das Zwangsmassnahmegericht entscheiden, ob die beschuldigte Person in Untersuchungshaft zu nehmen oder unverzüglich zu entlassen ist. Erstmalig kann eine Haftdauer von maximal drei Monaten angeordnet werden. Bei einer Verlängerung durchläuft das Verfahren in etwa das gleiche Prozedere, wobei die Untersuchungshaft jeweils um weitere drei Monate, in Ausnahmefällen um längstens sechs Monate verlängert werden darf.
Also mal ganz einfach ausgedrückt: Das Gericht (und nur das Gericht) ordnet eine Untersuchungshaft an und in keinem Fall die Staatsanwaltschaft. Mindestens einer der drei Haftgründe Fluchtgefahr, Kollusionsgefahr (Vertuschungsgefahr) und/oder Wiederholungsgefahr muss zwingend vorliegen, wobei davon auszugehen ist, dass im Fall Pierin Vincenz die U-Haft mit der Kollusionsgefahr begründet wird. Offenbar wird die Gefahr der Beeinflussung von Zeugen sowie das Einwirken auf Beweismittel, wie es juristisch korrekt formuliert wird, als gegeben eingestuft.
Dass Gerichte nicht vorschnell entscheiden, beweisen die vielen abgelehnten U-Haft-Anträge.
Dass Gerichte nicht nach dem Prinzip von Säuhäfeli-Säudeckeli funktionieren, zeigen die vielen U-Haft-Anträge, welche schweizweit und zahlreich von den Zwangsmassnahmegerichten entgegen den Anträgen der Staatsanwaltschaft abgelehnt werden. Teilweise kompensiert mit Ersatzmassnahmen wie zum Beispiel eine Sicherheitsleistung oder einer Ausweissperre, um nur einige wichtige zu nennen.
Nichts von finsteren Verhörmethoden
Dann unterstellt René Zeyer dem Staatsanwalt, dass dieser in beliebig langen Einvernahmen mit allen Tricks arbeiten und allenfalls andeuten könne, dass der Mitgefangene bereits am Auspacken sei. Solche Aussagen lassen zumindest vermuten, dass sich der Verfasser mit hoher Wahrscheinlichkeit zu viele TV-Krimis reingezogen hat. So regelt Artikel 140 der Strafprozessordnung, dass unter anderem Versprechungen und Täuschungen bei der Beweiserhebung untersagt sind und solchermassen erlangte Geständnisse einem klaren Beweisverwertungsverbot unterliegen.
Auch haben Vorhalte und Fragen an einen Beschuldigten so formuliert zu sein, dass damit die Vollständigkeit und die Klärung allfälliger Widersprüche klar zum Ausdruck kommen. Also nichts da mit finsterer Verhörmethode und der Androhung von Waterboarding oder Ähnlichem.
Schliesslich muss an dieser Stelle festgehalten werden, dass dem Beschuldigten und somit auch Pierin Vincenz zur Wahrung seiner Interessen einer oder mehrere Rechtsbeistände während der gesamten Verfahrensdauer zur Seite stehen, wobei hier eine notwendige Verteidigung im Sinne von Artikel 130 der Strafprozessordnung gegeben ist und somit der Beschuldigte verteidigt werden muss. Dass ein Staatsanwalt, Ermittler oder Kriminalist in Anwesenheit eines oder mehrerer Verteidiger der Versuchung erliegt, in die verbotene Trickkiste zu greifen, ist abwegig und eine unqualifizierte Unterstellung.
«In dubio pro reo», im Zweifel für den Angeklagten.
René Zeyer glaubt zu wissen, dass Pierin Vincenz vielleicht etwas Anrüchiges, Unanständiges, nicht aber etwas Strafbares getan hat und gibt dem zuständigen Staatsanwalt diesbezüglich etwas Nachhilfeunterricht. Ferner werden Aussagen von namentlich nicht genannt sein wollenden Personen zitiert, wonach der verfahrensleitende Zürcher Staatsanwalt ein «Dünnbrettbohrer» oder wahlweise ein «inkompetenter Schaumschläger» sei. Na ja, mit solchen Attributen muss man als Strafverfolger mit einer gewissen Nonchalance umgehen können. Kann man auch locker nach ein paar Jahren Berufserfahrung.
Ein Rechtsgrundsatz heisst «in dubio pro reo», im Zweifel für den Angeklagten. Dies gilt aber ausschliesslich für die Gerichte, wonach niemand verurteilt werden darf, über dessen Schuld Zweifel bestehen. Im Gegensatz zu «in dubio pro duriore», im Zweifel für das Härtere. Da die Staatsanwaltschaft nicht ein vorgelagertes Gericht ist, muss zwingend Anklage erhoben werden, wenn eine Verurteilung wahrscheinlicher erscheint als ein Freispruch.
Blick in die Strafprozessordnung
Würde der zuständige Staatsanwalt auf eine Anklage verzichten, nur weil gewisse Personen aus dem Umfeld von Pierin Vincenz von dessen Unschuld überzeugt sind und er zudem in Zeitungsartikeln nicht als «Dünnbrettbohrer» disqualifiziert werden möchte, dann würde er die Rechtsprechung des Bundesgerichts ignorieren und wäre in Tat und Wahrheit ein «Dünnbrettbohrer».
Die Schweiz ist kein verluderter Rechtsstaat – auch nicht im Fall Vincenz. Dem Artikelschreiber René Zeyer sei dringend geraten, die Schweizerische Strafprozessordnung mit den entsprechenden Rechtskommentaren etwas vertiefter zu studieren. Eine erste Möglichkeit böte sich ihm zum Beispiel am kommenden Sonntagabend anstelle des «Tatort»-Krimis.
Markus Melzl ist ehemaliger Kriminalkommissär und Sprecher der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch