Der Protest wächst bedrohlich
Marokko kommt nicht zur Ruhe – Erinnerungen an den Arabischen Frühling.

Am 28. Oktober 2016 kommt es in der marokkanischen Küstenstadt Al-Hoceima zu einem tragischen Ereignis, das bis heute nachwirkt. Der Fischhändler Mohsen Fikri, der mehrere Hundert Kilo Schwertfisch geladen hat, wird beim Hafen von Polizisten kontrolliert.
«Das ist illegal», sagen ihm die Uniformierten, denn in dieser Saison seien die Schwertfische geschützt. Die Polizisten beschlagnahmen den Fang und werfen ihn in einen Müllwagen. Fikri und seine drei Kollegen wollen ihr Tageswerk retten. Sie springen in den Wagen, um zu verhindern, dass ihre Fische in der Müllpresse zerhackt werden. Als sich die Maschine plötzlich in Bewegung setzt, können sich Fikris Kollegen in Sicherheit bringen. Aber Fikri bleibt hängen. Er wird von der Presse zermalmt.
Der tote Fischhändler
Im Nu verbreitet sich das Video vom toten Fischhändler in den sozialen Medien. Stunden später löst es erste Proteste in der kleinen Hafenstadt im Nordosten Marokkos aus. Seither kommt das Königreich nicht zur Ruhe. Die Proteste dehnen sich im Laufe der Wochen auf Casablanca und die Hauptstadt Rabat aus. Junge Männer und zunehmend auch Frauen blockieren Strassen in den Städten, schliessen Marktplätze und rufen einen Generalstreik aus, berichten Beobachter. «Unser friedlicher Protest ist vorbei», skandieren sie, und bei Zusammenstössen mit der Polizei werfen sie Steine.
Die Bewegung hat bereits einen Namen: Al-Hirak al-Schaabi. Sie hat Anfang dieser Woche erneut zu Protesten aufgerufen. Sie fordert, dass ihr Gründer Nasser Sefsafi, der verhaftet wurde, aus dem Gefängnis entlassen wird. Die Gruppe führt Monaten Demonstrationen gegen Arbeitslosigkeit und Korruption in der Regierung an.
Was sich derzeit in Marokko abspielt, erinnert an den Beginn des sogenannten Arabischen Frühlings vor sieben Jahren. Im Dezember 2010 hatte sich der Gemüsehändler Bouazizi in der tunesischen Stadt Didi Bouzid mit Benzin übergossen und sich mit einem Feuerzeug angezündet – aus Protest gegen die Schikanen der Polizei und seinen wirtschaftlich desolaten Zustand. Kurze Zeit später erlag er seinen Brandverletzungen.
Im Nu kam es damals zu Massenprotesten gegen das Regime, und keine zehn Tage später trieben die Tunesier ihren verhassten Präsidenten Zine el Abidine Ben Ali aus dem Land. Die Protestbewegung ergriff in der Folge den Mittleren Osten, zum Beispiel Ägypten, Libyen oder Syrien.
Die eiserne Faust
Marokko blieb eine Ausnahme und wurde vom Arabischen Frühling nicht angesteckt. Die Regierung erliess eine Handvoll liberaler Gesetze, um die Bürger von der Strasse fernzuhalten, und mit eiserner Faust ging sie gegen Islamisten vor. 1600 Marokkaner sollen nach offiziellen Angaben die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Syrien oder im Irak unterstützt haben. 200 bis 240 seien inzwischen zurückgekehrt – entweder nach Marokko oder nach Europa.
Auf Anlass des Königs sollen in den Schulbüchern künftig alle Hinweise auf den «Heiligen Krieg» gestrichen werden. Zudem kämpft das Regime seit Jahren gegen die Korruption und gegen Nepotismus. Aber auf dem Index von Transparency International steht Marokko weiterhin auf dem unrühmlichen Platz 90 von 176 Staaten. Jetzt könnte das Ende des Regimes des Königs von Marokko nahen, spekulieren Beobachter. Seit dem tragischen Tod des Fischers Fikri ist es ihm nicht gelungen, die Situation in den Griff zu bekommen. König Mohammed VI. macht auf Augenwischerei und schiebt die Verantwortung für die Proteste auf seine Minister ab.
So hat er die schleppende Umsetzung eines von ihm veranlassten Förderprogramms für die Protestregion kritisiert. Den zuständigen Ministern strich er die Sommerferien, um dem Volk seinen guten Willen zu zeigen. Ob das reichen wird, ist freilich eine andere Frage. Ein Viertel der Jugendlichen ist arbeitslos. Und das Misstrauen gegenüber dem Staat ist gross; der «kleine Mann» fühlt sich ihm ausgeliefert. Schlimm ist es besonders in der Rif-Region, wo die Aufstandsbewegung im Oktober begann. Haschisch-Anbau und illegaler Fischfang sind dort die wichtigsten Einnahmequellen.
Und doch: Dass es nun auch in Marokko zu einem gewaltsamen Sturz des Herrschers kommt, wird von Experten bezweifelt. Was in Syrien oder in Libyen geschehen sei, wirke abschreckend, meinen Marokkaner gegenüber Journalisten. «Ohne unseren König», denken viele, «würde es uns genau so gehen.»
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