Der neue Robbie Williams
Mit der Boyband One Direction wurde er bekreischt, jetzt soll er gleich den Indie-Rock retten. Wir haben das Soloalbum von Harry Styles angehört. Stück für Stück.
Er gilt als einer der entscheidenden Momente jüngerer britischer Musikgeschichte: jener der Veröffentlichung von Robbie Williams' «Angel» 1997. Noch heute sieht man in der Single gerne das Ende der britischen Independent-Szene. Macht erst das Ex-Mitglied einer Boyband für ein Major-Label auf Britpop, kann es mit Unangepasstheit und Innovation des Genres nicht mehr weit her sein. Sei das, wie es will, für Williams war «Angels» der Startpunkt einer neuen Künstleridentität. Weg vom vielbekreischten Clown, hin zum seriösen Act mit Stadiontouren.
Vielleicht, ja, vielleicht stehen wir gerade am Robbie-Williams-Moment dieses Jahrzehnts: Harry Styles, einstiges Mitglied der Über-Boygroup One Direction, veröffentlichte vor wenigen Tagen sein erstes, selbstbetiteltes Soloalbum. «Harry Styles», das sind zehn Songs, auf denen die Gitarre die Hauptrolle spielt. Eine Tatsache, die bei Kommentatoren im angelsächsischen Raum Euphorie auslöste: Dieser Frauenschwarm wird vielleicht den kränkelnden Indie-Rock retten. Ob das Album wirklich diese Kraft besitzt? Wir haben uns «Harry Styles» angehört:
1. «Meet me in the Hallway»: «Two, three, four», zählt Harry Styles den Song ein und beschwört Tonstudio-Authentizität herauf. Es folgen: eine verträumte Akustikgitarre, glockenhelles Orgelgeklimper, Styles' schmachtende Stimme, viel Echo. Im Refrain dann Dringlichkeit: Styles singt mit mehr Druck; einige dreckig gezupfte Läufe der Gitarre unterstützen ihn. Da schwingt eine ordentliche Portion 70er mit. Dieses Lied zieht mit, dieser Einstieg ins Album ist ein Statement!
2. «Sign of our Times»: Schnörkellose Pianoakkorde auf den Schlag? Ja, «Sign of our Times» erinnert im Einstieg an ein verlangsamtes «Angels» von Robbie Williams. In der Strophe gibt es eine grosse Portion Melancholie, im Refrain wird diese vollends zum Sirup verdickt: Dicht sind die Schläge des Drummers auf das Becken, dicht sind die Lagen von Lead- und Rhythmus-Gitarren. Das wiederum klingt stark nach Mott the Hoople und David Bowie. Passend auch der Clip zu «Sign of our Times». Der Sänger wird zur Messias-Figur. Ein Windstoss hebt ihn vom Streifen britischer Küste. Styles geht übers Wasser und fährt in den Himmel. Letzteres auf die coolstmögliche Art: mit den Händen in der Hosentasche.3. «Carolina»: Man kann es nicht überhören: Dieser Gitarreneinstieg klingt fast eins zu eins wie «Stuck in the Middle with you» von Stealers Wheel. Mit dem Refrain wird der Song aber verspielter, treibender – Streicher und Lalalas, das macht Spass.
4. «Two Ghosts»: Und jetzt eine Spur verträumter Country. «Same lips, red. Same eyes, blue», singt Styles. Ist das eine Anspielung auf den Song «Style» seiner Ex Taylor Swift? Die sang «You got that James Dean daydream look in your eye/And I got that red lip, classic thing that you like».
5. «Sweet Creature»: Gezupfte Gitarre; Bass und Schlagzeug fehlen. Man kann nicht umhin, auch hier die Einflüsse zu hören. Diesmal: The Beatles mit «Blackbird». Doch der Refrain zeigt, über welch souveräne Stimme Harry Styles verfügt. Er verstärkt und vermindert den Druck, setzt leichte Vibratos an die Enden der Phrasen.
6. «Only Angel»: Chöre und ein Orgelteppich bauen eine Spannung auf. Dann knallt es: Wir sind mitten in einem Rocksong. «Broke a finger knocking on your bedroom door/I got splinters in my knuckles crawling 'cross the floor.» Später singt er: «She's a devil in between the sheets.» Die engelhafte Frau, die verführt; der Mann, der ihr hörig ist. Ach Gott, 23 zarte Jahre jung ist Harry Styles und bemüht die überflüssigsten Geschlechterklischees des Rock'n'Roll.
7. «Kiwi»: Die Retro-Tour geht weiter. Diesmal mit Glam-Rock und Schuffelgitarre.
8. «Ever since New York»: Neuer Song, neues Genre. Jetzt wird es folksy-melancholisch. Styles hat seine Stimme runtergeschraubt, haucht die Zeilen des Songs fast schon. Aber: Es ist eine schöne Nummer.
9. «Woman»: Gemächlich stampft dieser Song dahin. Es kracht ein Piano, es leckt frech eine E-Gitarre. Das Resultat ist auch hier eine gute Mischung aus Melancholie in der Strophe und Verspieltheit im Refrain.
10. «From the Dining Table»: Styles beendet sein Album, wie er eingestiegen ist: mit einem Statement. Das ist eine ruhige Akustiknummer. Auf dem Höhepunkt sorgen lediglich Streicher für mehr Druck. Ja, da will einer definitiv als Musiker wahrgenommen werden.
Fazit: Harry Styles' Solo-Album ist süffig. Dem 23-Jährigen dürfte der Start in eine ernst zu nehmende Solokarriere zweifelsfrei gelungen sein. Und doch wirkt «Harry Styles» als Ganzes etwas orientierungslos: hier etwas Glam, da etwas Folk; hier verneigt er sich überdeutlich vor Bowie, dort bemüht er in den Lyrics Macho-Klischees. Hat hier gerade einer den Indie-Rock gerettet? Noch nicht ganz. Aber mit dieser Stimme und etwas mehr Reife? Wer weiss.
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