Der nächste Hip-Hop-Präsident der USA
Kanye West hat Donald Trump im Weissen Haus besucht: Eine Begegnung mit Vorgeschichte.

Letzten Donnerstag spielte sich im Weissen Haus eine Begegnung der bizarren Art ab. Vor den im Oval Office versammelten Medienvertretern und -vertreterinnen schwafelte der Rapper, Modemacher und Influencer Kanye West minutenlang von theoretischer Physik, seinem Lieblingssuperhelden, männlicher Energie, einer Idee für ein neues Präsidentenflugzeug und dem Milliardendeal, mit dem er Adidas vor dem Ruin bewahrt haben will. Donald Trump verharrte indes stumm hinter seinem Schreibtisch und war sichtbar überrascht, als West ihm seine Liebe erklärte und diese mit einer etwas steifen Umarmung unterstrich. Nur so viel konnte der sonst so redefreudige Trump über die Ausführungen seines Gasts sagen: «Das war sehr eindrücklich.»
Die Pressekonferenz am vergangenen Donnerstag war nicht das erste Mal, dass West seine Bewunderung für Donald Trump zum Ausdruck gebracht hatte. Im Dezember 2016 hatte der erfolgsverwöhnte Allrounder den zukünftigen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika im Trump Tower in New York aufgesucht, um diesen für die besonderen Probleme seiner Heimatstadt Chicago (seit vielen Jahren die Mordmetropole der USA) zu sensibilisieren. Das Treffen wurde mit einem Selfie dokumentiert, das Bild der beiden Selbstdarsteller ging um die Welt.
Dieses initiale Rendezvous wurde von den Medien anfänglich noch als Zeichen von Wests zerbröselndem Geisteszustand abgebucht. Wenige Wochen zuvor hatte er ein Livekonzert im kalifornischen Sacramento nach einer Lobestirade auf Trump abgebrochen, um sich am nächsten Tag in eine psychiatrische Anstalt einliefern zu lassen. Dort stellten die Ärzte bei ihm eine durch Schlafmangel und Dehydrierung herbeigeführte Kurzpsychose fest. An eine Wiederaufnahme von Wests unterbrochener Amerikatournee war nicht zu denken, die Streichung der verbliebenen Konzerte sollte die Rechtsanwälte und Versicherungsexperten über Monate hinweg beschäftigen.
West kam erst 2018 wieder auf Touren. Im April liess er sich mit einem Cap mit Trumps Wahlspruch «Make America Great Again» ablichten und bezeichnete den Präsidenten als seinen Bruder. Kurz vor der immer wieder hinausgezögerten Veröffentlichung seines Albums «Ye» machte er im Mai wieder Schlagzeilen. Während eines Besuchs beim Nachrichtensender TMZ behauptete West, dass die Afroamerikaner die 400 Jahre andauernde Ära der Sklaverei mitverantwortet hatten. Die Empörung über Wests Äusserung war gross. Später sagte dieser, ihm sei selbstverständlich bewusst, dass sich seine Vorfahren nicht freiwillig hatten verschleppen und versklaven lassen. Das bis heute im schwarzen Amerika verbreitete Opferdenken hindere die Menschen aber am sozialen Aufstieg. Darum müsse man endlich über die Tragödie der Sklaverei hinwegkommen.
Letzten Donnerstag entwickelte West diese Überzeugung in konstruktiven Vorschlägen weiter. Anstatt einen Wohlfahrtsstaat aufrechtzuerhalten, der schwarze Menschen zuerst von ihm abhängig mache und sie später in die Armut und die Gefängnisse treibe, müsste die Regierung die Produktionslinien von Grosskonzernen wie Levi's und Apple in die USA zurückholen. Nur wenn die Menschen mit gut bezahlten Jobs versorgt seien, würden sie wieder auf sich und auf Amerika stolz werden.
Überhaupt sei es wichtig, dass die USA wieder Respekt für die eigenen Institutionen bekämen, so West weiter. Das ginge aber nur, wenn die Schulen für die Schüler interessanter würden und die Polizisten damit aufhörten, schwarze Menschen zu drangsalieren. Die sogenannte «Stop-and-frisk»-Praktik, die es Gesetzeshütern erlaube, nichts ahnende Bürger ohne Grund auf offener Strasse anzuhalten und nach Waffen und Drogen zu durchsuchen, bringe nichts.
Mit dieser Aussage stellte sich West gegen Donald Trump, der sich früher für «Stop-and-frisk» ausgesprochen hatte. Auf die Frage eines Journalisten, was der Präsident zu Wests Stellungnahme meine, sagte Trump nur etwas unverbindlich: «Ich bin für jeden Vorschlag offen. Jetzt gehen wir erst einmal zusammen Mittag essen und bereden alles in Ruhe.»
Selektive Berichterstattung
Von Wests Gedanken zu Wirtschaftsförderung, Sozialreform und Polizeigewalt erfuhr man in den meisten Medienberichten nichts. Verschwiegen wurde auch, dass West nach Washington gekommen war, um der Unterzeichnung des Music Modernization Act beizuwohnen, eines Gesetzes mit weitreichenden Folgen für die Musikindustrie. Die Reporter ignorierten auch den Fakt, dass West nur über Paralleluniversen gesprochen hatte, um damit zu illustrieren, dass er in einer Alternativrealität leicht in einem Hochsicherheitsgefängnis hätte landen können. Mit seinem allseits belächelten Entwurf für Air Force One, den er auf seinem iPhone zeigte, wollte er dem Präsidenten in der ganzen Welt zu mehr Respekt verhelfen. Denn: «Nur wenn dieser Typ gut dasteht, sehen wir als Land gut aus. Darum mag ich es nicht, wie die Liberalen den Präsidenten durch den Kakao ziehen.»
Beim Themenkomplex Strafvollzug hat West in Zusammenarbeit mit seiner Ehefrau Kim Kardashian bereits einen kleinen Erfolg feiern können. Im Frühjahr war Kardashian bei Donald Trump vorstellig geworden, um für die Freilassung der 63-jährigen Alice Mari Johnson zu plädieren. Diese war 1996 wegen eines Drogendelikts zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt worden, die Trump im Juni aufhob. Offenbar hat die Familie West- Kardashian, die im Internet Millionen Follower mit Einzelheiten aus ihrem Privatleben beliefert, das Gehör des Präsidenten.
Über die Art und Weise, wie Kanye West diese Plattform nutzt, darf man durchaus geteilter Meinung sein. Laut Presseberichten ist selbst Kim Kardashian von seinem Auftritt im Weissen Haus wenig begeistert. Auf einer Konzertbühne mag eine in Vergleichen und Anspielungen getränkte Gedankenflut durchaus in der Tradition des Freestyle-Rap stehen, vor dem Pressekorps des Weissen Hauses entspricht West aber ganz und gar dem Stereotyp des zornigen schwarzen Mannes. Ein Negativbild, das der aus der Mittelschicht stammende West eigentlich zu umschiffen sucht.
Von der jüngsten Begegnung mit dem rappenden Patrioten dürfte vor allem Donald Trump profitieren. Viele Beobachter fürchten, dass Kanye West den oft als Rassisten verschrienen Präsidenten bei der schwarzen Wählerschaft salonfähig gemacht haben könnte, die traditionell für die Kandidaten der Demokratischen Partei Amerikas stimmt. Das ist umso brisanter, weil die Amerikaner im November einen Teil ihres Parlaments neu bestellen werden. Die Wahlen gelten als Barometer für die politische Stimmung in den USA.
Dabei hat die Hip-Hop-Szene ideologisch einiges mit der Republikanischen Partei Amerikas gemein. Kaum ein anderes Milieu im Musikgeschäft ist so stark auf Profit fixiert wie der Hip-Hop, kaum ein anderes Genre prunkt so vulgär mit Luxus. Wohl im Wissen, dass das schwarze Amerika eine finanzielle Schlagkraft zeigen muss, wenn es in den USA wahrgenommen werden will.
Der «David Bowie des Hip-Hops»
Allein mit Geldgier lässt sich der Geschäftstrieb von Wests Mentor Jay-Z nicht erklären, der durch seine Investitionen in zahllose Gastro-, Sport- und Medienunternehmen inzwischen einen Nettowert von 990 Millionen Dollar erlangt hat. Immerhin nutzt der geläuterte Crack-Dealer seinen Status als Beinahe-Milliardär auch dazu, die soziale Ungleichheit in den USA anzuprangern und eine bessere Wasserversorgung für Afrika zu fordern.
Dass Barack Obama das Etikett des Hip-Hop-Präsidenten umgehängt bekam, lag nicht zuletzt an seiner Bewunderung für Jay-Z. Dieser zählte nach Obamas Einzug ins Weisse Haus bald zu seinem engeren Freundeskreis. Die Nähe zum ehemaligen Gangsta-Rapper brachte dem Präsidenten unter Konservativen dann auch viel Kritik ein. Er hielt Kanye West hingegen für einen Idioten. Und das nicht ohne Grund. West schien jedes Medium recht, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Nicht umsonst wurde West oft als «David Bowie des Hip-Hops» bezeichnet. Das lag einerseits an der innovativen Kraft dieses Musikers, der sich mit jeder Veröffentlichung neu erfand. Wie einst Bowie nutzt auch West die Medien als Projektionsfläche für allerlei Posen und Provokationen. Wie wirr er in der Öffentlichkeit wirkt, das weiss West wohl selber. «Von mir kriegt ihr keine Sound-Bytes serviert», sagte er den Medienvertretern im Oval Office. «Ich bin wie ein guter Wein, der viele verschiedene Duftnoten hat.»
Möglich ist, dass der kluge Wirrkopf einen nachhaltigen Plan verfolgt, von dem man bislang wenig wusste. Oder den man einfach nicht ernst nehmen wollte. 2015 hatte West seine Absicht angemeldet, für das Präsidentenamt zu kandidieren, am vergangenen Donnerstag brachte er diese Intention erneut zur Sprache. West hielt aber fest, dass er erst 2024 in die Politik einsteigen werde. Das bedeutet, erst nach Donald Trumps zweiter Amtszeit.
Sollte Kanye West in sechs Jahren tatsächlich ins Weisse Haus gewählt werden, ist nicht klar, ob er das Programm seines Vorgängers und Busenfreunds Donald Trump weiterführen oder eine feindliche Übernahme durchziehen wird. Letzten Donnerstag mag er die Demokraten zwar angegriffen haben, aber als politische Partner hat er sie nicht abgeschrieben. «Ich liebe auch Hillary Clinton», gab West zu. «Ich war aber nicht für sie, da ich bei ihr keine männliche Energie verspürt habe. Diese ist für mich als jemanden, der ohne Vater aufgewachsen ist, aber wichtig. Darum stehe ich auf Donald Trump.» West mag sehr wohl ein Geisterfahrer sein, aber ein Amokläufer ist er beileibe nicht.
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