Der Mann mit dem Countdown-Syndrom
Thomas Wicki baut selber Modellraketen. Morgen schiesst er sie in den Himmel und fühlt sich so leicht, als würde er selbst abheben.
Am Anfang war der Staubsaugerschlauch. Es kamen Besenstiel und Schwarzpulver dazu, fertig war die Rakete. Thomas Wicki war fünf und nutzte das Wohnzimmer als Werkstatt. Die Rakete sah aus wie eine Schlange, aber sie flog wie ihre Geschwister auf Amerikas Abschussrampen. Es gab keine Probleme, nur musste seine Mutter hin und wieder einen neuen Staubsaugerschlauch kaufen. Davon abgesehen hatte Wickis Countdownsyndrom keine Folgen. Vorerst. Unbehelligt machte er die Lehre als Elektrotechniker. Dann ging er zu einer Firma, die Zahnärzte ausrüstet, vom Wattestäbchen bis zur Operationsleuchte. Eines Tages kam er an einem Gelände vorbei, wo Männer Modellraketen zündeten. Wicki setzte sich dazu und wurde in seinem Plastikstuhl vom Kitzel des Countdowns erfasst, dem Schimmern der Raketen, ihrem Flug in den Himmel hinein. Drei Wochen später war Wickis erstes Modell fertig, entstanden während Dutzender Stunden Nachtarbeit. Die erste von dreissig Raketen, die er in den letzten acht Jahren gebaut hat. Wicki wurde Mitglied bei Argos, einem Verein für Raketenbauer, der in der Schweiz fünfzig Mitglieder zählt, darunter zwei Frauen. Dieses Jahr wird der Verein zehn Jahre alt. Seit Wicki dabei ist, fährt er jede Woche zwei- oder dreimal nach Schlieren, wo er und seine Kollegen einen Keller gemietet haben: das Mission-Control-Center. Hier arbeitet er zwischen Raumfahrtsabzeichen und einem Radio, aus dem die Hitparade knistert. Hantiert an der Bohrmaschine. Werkt an der Drehbank. Spritzt die Raketen und gibt ihnen Namen wie: Intruder, Eindringling. Wenn Wicki eine Rakete für einen Flugtag baut, nimmt er sich Ferien. Andre tun es ihm nach, und dann sitzen sie eine Woche in ihrem Mission-Control-Center, konstruieren und kleben, tauschen Teile und trinken Kaffee. Sie verwenden den Treibstoff, der auch die Spaceshuttles ins All bringt. Am Computer berechnen sie die Flugbahn mit einem Programm, das für Modellraketenbauer entwickelt wurde. Aus Amerika beziehen sie Ersatzteile und Inspiration. Einer im Verein konstruiert Raketen, die Weinbauern am Genfersee in die Wolken schiessen, wenn Hagel droht. Kollegen in Amerika bauten Apollos nach und feierten mit diesen umgekehrten Geburtstagskerzen das Jubiläum der Mondlandung vor vierzig Jahren: Ein grosser Schritt für einen Modellraketenbauer, ein nicht ganz so grosser Schritt für die Menschheit. Wicki hat viel gelernt in dieser Zeit. Jetzt kann er fräsen, löten, sägen, spritzen, schleifen. Alles im Dienst eines Produkts, das abheben muss. Sein Hobby gibt ihm viel: Stunden der Versenkung. Stilles Pröbeln. Fachsimpeln mit der Plastiktasse am Zeigefinger. Zielgerichtetes Arbeiten. Ferien auf den Salzseen Amerikas, wo er die Raketen meilenweit in den Himmel schiessen kann und so schnell, dass die Farbe schmilzt. Sind die Raketen fertig, bereitet Wicki als Präsident des Vereins den nächsten Flugtag vor. In Kaltbrunn, zwischen Zürichsee und Walensee, hat er einen Ort gefunden, der sich gut dafür eignet: Man sieht die Alpen, stört niemanden, hat seinen Frieden. Wicki informiert Flugbehörden, holt Bewilligungen ein, bringt Warnschilder an, sucht mit dem Feldstecher den Himmel ab, geht die Punkte der Checkliste noch mal durch, als hätte er einen Mondflug zu verantworten. Sicherheit ist alles. Dann kommen die Kollegen mit den Raketen im Schlepper und richten sich ein, stellen die Abschussrampe auf, werfen den Grill an; auch Raketenbauer müssen mal was essen, wenn sie hungrig sind vom Rückwärtszählen. Die Rampe steht auf einem Brandschutztuch, damit das Gras darunter keinen Schaden nimmt. Wicki ist es wichtig, dass seine Kollegen und die Raketen keine Spuren hinterlassen. Ausser den Kondensstreifen in der Luft, die schnell verpuffen. Wenn die letzte Rakete geflogen ist, wird er durchs Feld gehen und alle Fetzen einsammeln. Es wird so aussehen, als wären er und seine Freunde nie dagewesen. Als wären sie geschrumpft und hätten sich davongemacht ins All, als sandalentragende Miniatur-Kommandanten an Bord ihrer Raketen. Kurz vorm Start: Der Speaker gibt letzte Informationen durch, nennt den Namen der Rakete und die Flugdaten. Dann setzt er zum Countdown an, und es wird still auf den Plastikstühlen. Für Wicki sind diese zehn Sekunden das Schönste. In seinem Kopf eine Rückblende: Wie er all die Teile zusammenklebte und die Schrauben anzog und die Flächen polierte und die Rakete in den Transportwagen bettete und die Funktionen prüfte. Und wie er das Ding zündete. Es geht selten was schief, trotzdem ist Wicki jedes Mal kribblig. Die Rakete hebt ab, erst langsam, dann schnell. Wicki schaut still in den Himmel, sein Kopf ist jetzt leer. Er sitzt einfach da und geniesst seine Rakete. Sie fliegt 1400 Meter hoch, dann öffnet sich ein Fallschirm und sie schwebt zurück zur Erde. Wicki holt und trägt sie, als wäre sie ein Kind. Er wird sie noch oft in die Luft schiessen. Oder er nimmt sie auseinander und baut aus den Bestandteilen eine andere, lässt die alte in der neuen Rakete fortleben, wie er sagt. Wicki fährt nach Hause, das Gesicht hell vom Schein der Armatur, und fühlt sich so leicht, als wäre er selbst in der Luft gewesen. Raketenflugtag in Kaltbrunn: Sa ab 10 Uhr. Grill, gemütliches Beisammensein und viele, viele Countdowns.www.argoshpr.ch
Im Mission-Control-Center in Schlieren, wo Thomas Wicki seine Raketen mit eingebauten Fallschirmen baut.
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