Der Mann der Pferdestärken
Da waren Jo Siffert, später Clay Regazzoni. Und dann kam Marc Surer und drehte seine Runden.

Eine Pferdestärke hätte ihm gereicht, als er jung war und ein Kind noch und er Cowboy werden wollte. Das war zu der Zeit, als er beim Vater auf dem Hof in Eptingen auf dem Traktor mitfuhr, und es war kurz vor der Zeit, als er begann, den elterlichen Jeep zu fahren. Er sass hinter dem Steuer, daneben sein Bruder und mit einer Stimme, die gerade in den Stimmbruch kam, sagte er ihm, wann er die Stoppuhr drücken sollte. Und dann gab er Gas. Als er ein Schlosser, in erster Linie aber ein Mann und Rennfahrer geworden war, zügelte er einen Boliden mit 1000 Pferdestärken, und heute, als 65-Jähriger, reitet er Pferde und fährt Gokart. Das ist ein bisschen Marc Surers Leben; er fuhr zuerst seinem Traum davon, um in einem andern anzukommen, um dann, ein Leben später, doch noch so etwas wie Cowboy zu werden. Das ist das Wunderbare an seinem Leben. Das Wunder ist es, dass er es überlebt hat.
Ganz ohne Licht einsam in der Dunkelheit
Drei Wochen seines Lebens sind ohne Erinnerung. Es waren Tage, als er war wie ein Auto, das fast ohne Motor und ganz ohne Licht einsam in der Dunkelheit rollt. Es waren Stunden, in denen nicht ganz klar war, ob der Tod oder das Leben das Rennen machen würde. Surer lag im künstlichen Koma auf der Intensivstation im Unispital in Giessen, «weil fast alles kaputt war, das Becken, die Beine gebrochen, ein Fuss fast abgerissen, dazu die verbrannte Haut, fast mehr als ein paar Jahre zuvor bei Niki Lauda. Meine linke Hand war ein Klumpen aus Fleisch. Und dreimal am Tag pumpten sie mir die Lunge aus.» Das Auto, das ihn in diese Lage gebracht hatte, war gar nicht mehr, entzweigerissen an einem Baum, dann verbrannt, sein Co-Pilot auch. An den Unfall hat er keine Erinnerung, an seinen Co-Piloten schon.
Es ist keine Frage von Schuld, es war ein Rennunfall, ein schleichender Plattfuss, der dem Wagen die Haftung nahm bei etwas über 200 Stundenkilometern. «Sterben gehörte damals zum Geschäft.» Die 1986er-Saison, Surers letzte, war business as usual. Der Formel-1-Fahrer Elio de Angelis starb bei Testfahrten, die Rallyelegende Henri Toivonen Anfang Mai 1986 auf Korsika, und der Beifahrer Michel Wydler starb am 29. Mai bei der Hessen Rallye neben Marc Surer in einem Ford RS200, einem Auto, das in erster Linie Motor war und ein bisschen Glasfaser-verstärkter Kunststoff und ein Tank, der sich hinter den Sitzen befand. Der Ford war ein Auto der «Gruppe B», das Wildeste, das der Rallyesport je hochgezüchtet hatte, so tödlich, dass die Serie nach nur vier Jahren Ende 1986 beerdigt wurde. Gruppe B, das war, wie man sagte, «for men, not for boys». Ein Jahr später sass Marc Surer nochmals in einem Formel-1-Cockpit, es war Training, aber schon das ging nicht mehr. Er sah Ayrton Senna im Rückspiegel, und «ich dachte, mach jetzt keinen Fehler, schiess ihn ja nicht ab. Ein Jahr zuvor hätte ich noch gekämpft um die nächste Kurve. Da war mir klar, dass es vorbei ist.»
Er erzählt das alles heute mit ruhiger Stimme, es ist lange her, als ob er dem allen ein wenig davongefahren wäre, der Sucht nach der Geschwindigkeit, der perfekten Kurve, dem Schlagen des Gegners, das Sein im Grenzbereich, wo die Erfüllung liegt, wo Rausch ist und nur ein paar lächerliche Drehzahlen weiter das Ende von allem. Als Surer an diesem 29. Mai 1986 ins Krankenhaus eingeliefert wurde, war er klinisch tot.
Endgültiger Boxenstopp
Er hat seinen Helm auf den Tisch gestellt, der seinen Kopf schützen konnte, sein Hirn, ob die Seele auch, ist die Frage. «Es war ein Rennunfall», sagt er nochmals. Er besucht regelmässig Wydlers Grab, weil «es trotzdem dabei bleibt, dass er meinetwegen gestorben ist». Ob in ihm etwas gestorben ist? «Es ist etwas auf der Strecke geblieben, das schon.» Als Surer aus dem Koma erwachte, wusste er nicht, wo er war. «Wo ist Michel», fragte er, «warum besucht er mich nicht?» Sie sagten es ihm erst viel später, als er zurück war auf der Strasse seines Lebens. Und als sie es ihm sagten, begannen die Besuche von Michel, und sie haben noch nicht aufgehört. Vielleicht sind sie seltener geworden, aber solange Surer lebt, wird es diese Besuche geben. Sie sind wie die Brandwunden auf seiner Haut; vernarbt zwar, aber doch stets da, und es gibt Tage, da schmerzen sie.
Als er zurück ins Leben geholt wird auf dem Krankenbett, steht seine Freundin da, Yolanda Tivoli. Bevor sie bei Marc Surer einstieg, war sie Beinahe-Miss-Schweiz, Playmate und lebte ein Jahr lang als Häschen im Playboyland von Hugh Hefner. Die beiden heiraten, sobald Surer wieder laufen kann und die Ärzte aus dem Klumpen Fleisch wieder eine Hand geformt haben. Die Schweiz hat ein Promipaar: «Marc Surer heiratet!», Blick vom 10. Oktober 1986. «Marc Surer: In der Hochzeitsnacht werde ich meine Schmerzen vergessen», Blick vom 24. November, fünf Tage vor der Hochzeit. «Marc und Jolanda Surer: «Unsere Ehe wird bestimmt nie im Alltagstrott enden», Blick für die Frau, 24. Dezember, einen knappen Monat nach der Hochzeit. Fünfeinhalb Jahre später: «Die Trennung von Yolanda ist eine Erlösung», Schweizer Illustrierte, 12. April 1993. «Seitensprung-Jolanda: Jetzt gibt sie wieder Gas», Sonntagsblick, 25. April. Dann Christina Bönzli, die nächste Frau, ein neues Rennen. «Christina kann ich meine Gefühle zeigen», Schweizer Illustrierte, 24. Oktober 1994. «Traumhochzeit im Baselländle – Mit Vollgas ins Eheglück», Glückspost, 5. Juni 1997. «Blitzscheidung», Blick, 17. Oktober 2000.
Exklusiver und exzessiver Club
Das Gespräch kommt beim Frauenthema nicht auf Touren, immer nur ein dünner Satz, dann wieder Autos, oder dass man nicht an den Tod denkt, wenn man fährt, und wenn man nicht fährt, auch nur, wenn grad einer gestorben ist, und das sei dann happig, aber dann fahre man wieder und vergesse.
Seine beiden ersten Frauen wurden beide Rennfahrerinnen. Sie wollten es, und er schob sie an, sie waren schnell, aber nie waren sie so schnell, wie sie schön waren. Ob er die Ehe als einen etwas verlängerten Boxenstopp sah, als Kick, als Kompensation, es bleibt unbeantwortet. Auch, was es für ein Gefühl ist, einst zu den schnellsten Männern der Welt gezählt zu haben und Mitglied gewesen zu sein in jenem exklusiven und exzessiven Club der Formel-1-Fahrer, und jetzt in der Box zu stehen und seine Frau fahren zu sehen. Offenbar kommt so was nur immer für ein paar Runden in die Gänge und läuft dann aus. Yolanda hatte einen Seitensprung mit Fahrerkollege Hans-Joachim Stuck, Christina ging zurück zu ihren Eltern und in die Arme von Jürg Marquard.
Seit sechs Jahren ist Surer wieder verheiratet. «Traumhochzeit in Argentinien», Blick, 5. Dezember 2011. Er kommentiert das nicht, aber es klingt nach einem ganz langen Langstreckenrennen zwischen Argentinien, Alicante, wo die beiden eine Pferdefarm betreiben, und Liestal, wo sie gerade eine Wohnung gekauft haben.
Während des Gesprächs sagt Marc Surer einen Satz: «Ich hatte nie Glück in der Formel 1.» 17 Punkte holte er in sieben Jahren mit sechs verschiedenen Autos, alles keine Granaten. Sein bestes Ergebnis ist ein vierter Rang in Rio. 1981 war das, Surer war auf der Höhe seiner Kunst. «Dann war noch ein Rennen in Brands Hatch. Ich startete als Achter (das Qualifying listet ihn als Siebenten), griff auf harten Reifen an, bis ich Zweiter war. Vier Runden vor Schluss ging mein Motor hoch.» So kommen Karrieren nicht auf die Überholspur.
Andere, die von Natur aus langsamer waren als Surer, waren erfolgreicher. Keke Rosberg etwa, er wurde Weltmeister. Surer fuhr einfach, das ging lange gut, war dann aber irgendwann doch zu wenig. Er hatte nie einen guten Manager im Hintergrund, vielleicht so, wie Michael Schuhmacher Willi Weber hatte, eine Mischung zwischen Vaterfigur, Antreiber und Finanzhai und vor allem Organisator von Cockpits der Spitzenklasse. Das waren damals McLaren oder Williams oder Ferrari.
Nie auf dem Podest
Er hatte mehr Talent als viele andere, ein wunderbares Gefühl für die schnellste Linie, aber ganz vorne in der Formel 1 reicht das nicht aus, wenn man kein Ayrton Senna ist. Schnell zu sein, war für ihn selbstverständlich, und er war lange Zeit schneller als seine Teamkollegen, das ist das Erste, was man in der Formel 1 sein muss, aber seine Teamkollegen hiessen Eliseo Salazar oder Jan Lammers, und dann bei Brabham Nelson Piquet, und der nahm ihm im Training eine Sekunde ab, später wurde er dreimal Weltmeister, während Surers Traum das Benzin ausging, und einmal einen Podestplatz zu haben, wäre schon wie ein Sieg gewesen.
Er brachte es auf eine schnellste Rennrunde in seiner Karriere, im Regen Rios, das war wie ein kleiner Sieg.
Er brachte es auf eine schnellste Rennrunde in seiner Karriere (GP Brasilien in Rio, Jacarepaguá, 1981, 1:54,302, Runde 36, im Regen, Nelson Piquet gewann), was ein kleiner Sieg ist, weil im Regen der Fahrer ein Künstler sein muss. Sonst fuhr er im Kreis; zu langsam, um wirklich schnell, und zu schnell, um wirklich langsam zu sein, und das heisst in der Formel 1 Mittelfeld und Mittelfeld heisst auf ein Wunder hoffen; das Wunder eines Cockpits in einem Topauto. «Ich war damals das», sagt er, «was heute vielleicht Sébastien Buemi ist. Er ist schnell, aber er schafft den Durchbruch nicht.»
Die zweite Beschleunigung
Das war die Fahrt eines kleinen Jungen aus Eptingen, dessen Vater in der Stadt bei der Chemie arbeitete, dann aber aus gesundheitlichen Gründen aufs Land gezogen war. Dieses kleinen Jungen, der Traktor fuhr, Jeep und mit seinem Bruder ein Gokart bastelte, das er auf einer Strasse am Waldrand ausfahren konnte. Als er älter wurde, bekam er von der Gemeinde eine eigene Trainingsstrasse, so wie ein Motocrossfahrer aus dem Dorf einen eigenen Hügel bekommen hatte. Es war diese Strasse, die Surer auf die Rundkurse dieser Welt führte, bevor er von einem von ihnen abgeworfen wurde. Als er merkte, dass er nie mehr schnell sein würde, nie mehr träumen könnte von einem Sieg, wurde er Instruktor bei BMW, Rennleiter, er kaufte sich Pferde und wollte Springreiter werden, weil ihm der Wettbewerb fehlte, aber das kam nicht richtig in die Gänge. Er sprang nicht hoch genug.
Wir sind im Jahre 1996. Ein gutes Jahr für Surer. Nach zehn Jahren schmerzen die Narben noch, aber im Grunde nur, wenn das Wetter schlecht ist. Surer ist verliebt in Christina, sein Leben rollt, nicht mit Höchstgeschwindigkeit, aber immerhin. 1996 ist der Beginn seiner zweiten Karriere und der Grund für den Satz: «Darauf bin ich stolz.» Surer wurde damals Experte für Sky, und man kann sagen, dass er diesbezüglich den meisten andern davonfuhr, weil er weiss, wovon er spricht. Er ist ein Champion am Mikrofon. Er wird 66 dieses Jahr, sieht jünger aus, läuft aber älter. Er hat sich gut erholt von den letzten Schlagzeilen: «Ex-F1-Pilot Marc Surer mit Brüchen im Spital», Blick, 28. April 2015. Surer fiel in Spanien vom Pferd, brach sich zwei Rippen, pikierte die Lunge, und ein Bein brach er sich auch. Er lag im Krankenhaus, überall Schläuche, und liess verlauten: «Dem Pferd gehts gut.»
Rennen verpasst!
Natürlich ist das mässig witzig, aber es zeigt, wie Surer funktioniert und aus welchem Holz er geschnitzt ist. Wer acht Jahre lang in den 1980er-Jahren Formel 1 fuhr und mehr als eine Handvoll Rallyes und Langstreckenrennen überlebte, wer den Tod nicht herausforderte, sondern im Leben so weit ging, dass jenseits nur noch der Tod war, kommt nicht mehr oder nie mehr ins Schleudern. Er lag da in Spanien auf dem Krankenbett mit der Routine eines ehemaligen klinischen Toten, und was ihn wirklich fertigmachte, waren nicht die Schmerzen. Sondern dass er seit 20 Jahren als Experte, dass er seit 1996 das erste Formel-1-Rennen verpassen würde. 329 Rennen in Folge hatte er verfolgt, erklärt und ist mitgefahren auch irgendwie. Ein Rekord für die Ewigkeit. «Manchmal», sagt er, «ist eine Pferdestärke schwerer zu beherrschen als 800.»
Morgen Donnerstag im Sportteil der Basler Zeitung: Das grosse Redaktions-Interview mit Marc Surer.
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