Zum Tod von Jiang ZeminDer Mann, der Chinas Aufstieg zur Wirtschaftsmacht einleitete
Als Parteiführer setzte Jiang Zemin um die Jahrtausendwende auf Wirtschaftsreformen. Aber Menschenrechte kannte er nur als Recht auf Existenz, und politische Reformen lehnte er ab.

Zu Beginn waren es kleine Gemeinheiten, später schwang Respekt mit, wenn die Chinesen im Netz über Jiang Zemin sprachen. Im Volk wurde er «der Senior» genannt, online vor allem «Frosch», wegen seines breiten Gesichts, der überdimensionalen Brillengläser und der hochgezogenen Hose.
Es waren überwiegend die Jüngeren, die sich als «Krötenverehrer» zur «Froschbewegung» zählten. Dabei ging es weniger um Jiangs Regierungsstil. Menschenrechte kannte er nur als Recht auf Existenz. Alles, was die Stabilität gefährdete, sollte «im Keim erstickt» werden. Auf einen Vergleich mit Chiles Diktator Augusto Pinochet reagierte er zwar 1996 empört: «Ich bin doch kein Diktator.» Doch unter seiner Herrschaft wanderten viele Bürgerrechtler in Haft. Politische Reformen schloss er aus: «Chinas politisches System darf niemals erschüttert werden.»
Jiang zitierte gerne Lincoln und schwärmte von Goethe
Insofern war es vor allem die Ablehnung der aktuellen Führungsriege unter Parteichef Xi Jinping, die Jiangs Fangemeinde zuletzt wachsen liess. Die Sehnsucht nach einer anderen Politik ist in vielen Bildern mit Sprüchen festgehalten, die sich Chinesen online schicken. Da ist die legendäre Szene aus der Grossen Halle des Volkes in Peking im Jahr 2000. Eine Hongkonger Journalistin ruft Jiang eine Frage zu, dieser kontert: «Sie gehen auf der Jagd nach Schlagzeilen überallhin. Aber die Fragen, die Sie stellen, sind zu einfach, zu naiv.»
Ein solcher Schlagabtausch ist im heutigen China fast unmöglich. Xi trifft sich nicht mit Journalisten, Reden liest er vom Blatt ab, Fragen sind an Medienkonferenzen vorgegeben. 1998 diskutierten US-Präsident Bill Clinton und Jiang sogar live im Fernsehen über Menschenrechte. Undenkbar wäre auch, dass Xi sich positiv über amerikanische Ideen äussert. Jiang zitierte gerne Abraham Lincoln, gegenüber Staatsgästen schwärmte er von Goethe und Shakespeare. Er redete dann Englisch, mit einem schweren chinesischen Akzent.

«Zu jung, zu einfach, zu naiv»: Das ist zum Slogan einer Gemeinschaft im Netz geworden, die mehr Freiheiten von Peking fordert. Am letzten Wochenende wurde dieser Widerstand zum ersten Mal auf der Strasse sichtbar, als sich Menschen mit weissen Blättern in mehreren Städten versammelten. Während im Netz alle Spuren davon gelöscht werden, diskutierten am Mittwoch einige, ob eine Andacht für Jiang nicht ein Vorwand sein könnte, sich zu treffen. Die öffentliche Trauer über den Tod von Parteichef Hu Yaobang im April 1989 gilt als Auslöser für das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens in Peking. (Lesen Sie auch die Artikel «In Chinas Städten passiert gerade das bislang Undenkbare» und «Jetzt rüstet das Regime zum Gegenschlag».)
Jiang galt immer ein wenig als Witzbold, vielleicht sogar als etwas ungehobelt. Beim Parteitag 2017 verfolgte Jiang auf dem Podium mit einer loriothaft grossen Lupe die dreistündige Rede von Parteichef Xi Jinping. Jiang schien so müde oder gelangweilt zu sein, dass er immer wieder gähnte und auf die Uhr schaute. Krötenverehrer tragen Fotos des gähnenden Jiang auf T-Shirts oder auf ihren Handyhüllen.
Jiang Zemins Ausnahmekarriere begann mit der Wirtschaftsreformpolitik des Obersten Führers Deng Xiaoping um 1978.
13 Jahre war er Chinas Staatsoberhaupt und Vorsitzender der Kommunistischen Partei. Seine Ernennung war eher Zufall. Jiang wurde 1926 in der Nähe von Shanghai als Sohn eines Schriftstellers und Elektrikers und einer Bäuerin geboren. Da sein Onkel als sogenannter Märtyrer der Revolution eine besondere Position in der Gesellschaft genoss, übernahm dessen Familie Jiangs Erziehung. Der junge Mann studierte Elektroingenieurswesen an einer der besten Universitäten des Landes und trat noch vor Gründung der Volksrepublik 1946 der KP bei. Fast 15 Jahre war er in der Industrie tätig.
Seine Ausnahmekarriere begann mit der Wirtschaftsreformpolitik des Obersten Führers Deng Xiaoping um 1978, er wurde erst Generalsekretär der Verwaltungskommission für Im- und Export, später Minister für Elektronikindustrie. Parallel dazu stieg Jiang in der Partei auf. 1985 wurde er als stellvertretender Parteisekretär nach Shanghai entsandt. Einen Monat darauf wurde er Bürgermeister.

Kurze Zeit später begannen dort die ersten Demonstrationen von Studenten und Arbeitern, die nach Wirtschaftsreformen auch politische Reformen forderten. Anders als beim von den Hardlinern im Politbüro durchgesetzten Massaker in Peking im Juni 1989 liess Jiang nicht das Militär, sondern Parteimilizen und Aktivisten die Proteste in Shanghai beenden. An der Notwendigkeit der harten Linie in Peking liess Jiang aber nie einen Zweifel entstehen.
Für Jiang zahlte sich seine Loyalität aus. Nach dem Sturz des Parteichefs Zhao Ziyang kurz vor der Niederschlagung der Demokratiebewegung am 4. Juni 1989 musste Deng Xiaoping schnell einen neuen Kandidaten finden, der von den verschiedenen Strömungen in der Partei unterstützt würde. Die Wahl fiel auf Jiang.
Nach Xis Amtsantritt 2012 verlor Jiangs Clique an Einfluss
Auch wenn er von vielen als «blass» und «Übergangslösung» bezeichnet wurde, gelang es ihm, seine Macht schnell auszubauen. In seiner Amtszeit legten marktwirtschaftliche Reformen und der Eintritt in die Welthandelsorganisation 2001 die Grundlage für Chinas wirtschaftlichen Aufstieg. Den Höhepunkt seiner Macht aber erreichte Jiang nach seinem Abtritt 2002. Anstatt sich zurückzuziehen, zog der abgetretene Staatsführer im Hintergrund weiter Strippen, setzte seine Inspektionsbesuche im Land fort und entschied über die Besetzung wichtiger Posten mit – sehr zum Verdruss seines Nachfolgers Hu Jintao.
Erst nach Xis Amtsantritt 2012 verlor Jiangs Clique an Einfluss. Mithilfe einer Anti-Korruptions-Kampagne setzte der neue Parteichef das bis hoch in die Militärspitze reichende Netzwerk Jiangs unter Druck. 2015 kritisierte die staatliche Volkszeitung nicht näher genannte «pensionierte Führer», die sich an die Macht klammerten und weiter einmischten – eine Warnung an Jiang und seine Seilschaft.
In den vergangenen Jahren hatte es immer wieder Gerüchte um seinen Tod gegeben. Nun ist Chinas früherer Staats- und Parteichef Jiang Zemin im Alter von 96 Jahren gestorben.
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