Unternehmen wechseln StandortDer Krieg zwingt ukrainische Firmen zum Umzug
Nicht nur Frauen, Kinder und Katzen fliehen – auch ukrainische Industrieunternehmen verlegen ihren Standort. Über die grosse Wanderbewegung und wer dabei profitiert.

Es fliehen Frauen und Kinder nach Westen, es fliehen Alte und Kranke. Sogar Katzen und Hunde verlassen die zerstörten oder belagerten Städte im Osten der Ukraine. Und die Unternehmen? Die ziehen ebenfalls um. Nicht nur die mobilen digitalen Start-ups, die ihre Laptops in jedem Workspace in Galizien oder der Bukowina aufschlagen können. Ganze Metallverarbeitungsfirmen, Spezialpapier-Anlagen, Produktionsstätten von Generatoren mit Hunderten von Mitarbeitern verlagern ihrer Produktionslinien in den westlichen Landesteil.
In Lwiw landen ihre Anfragen in der Abteilung für Wirtschaftsförderung des gleichnamigen Bezirkes. Sie ist noch kein Jahr alt und wurde gegründet, um Investoren in den Westen zu locken, jenen Teil des Landes, der anders als der Osten keine ausgedehnten Weizenfelder hat und keine Schwerindustrie. So jung ist das Ressort, dass die Handvoll Mitarbeiter in dem prächtigen Palast der Bezirksverwaltung sich auf zwei Zimmer verteilt. Auf dem Boden steht ein Skateboard.
Eine Sorge weniger
Etwa 220 Interessenten aus Kiew und Charkiw, Saporischschja oder Kramatorsk seien seit Beginn des Krieges an sie herangetreten, sagt Danylo Petriv, der die ersten Gespräche mit den Gemeinden in und um Lwiw führte: «Niemand dort hatte Zeit für mich. Sie sagten: Wir müssen uns um die Flüchtlinge kümmern. Dabei ist es doch viel sinnvoller, Arbeitsplätze zu schaffen, damit die Flüchtlinge sich um sich selbst kümmern können. Das Geld aus dem Westen wird nicht ewig reichen.» Mindestens ebenso viele, vermutete Petriv, gehen den Umzug auf eigene Faust an.
Knapp 30 Firmen sind inzwischen mit Produktion und Mitarbeiterinnen in den Bezirk Lwiw übergesiedelt, darunter ein Pharmaunternehmen, eine Spezialdruckerei für Etiketten und ein Unternehmen, das schmiedeeiserne Feuerstellen und Plastik-Jacuzzis herstellt. Es gibt, das würde Petriv nicht bestreiten, in diesen Tagen dringendere Nöte in der Ukraine als Sprudelbecken für zu Hause. Aber die Firma produziert auch für den Export. Die Verlegung in den Westen sichert die Produktion, und die durch den Krieg schwer gebeutelte ukrainische Wirtschaft hat eine Sorge weniger.
«Wir helfen bei der Suche nach neuen Produktionsstätten, nach Wohnungen und bei der Logistik mit dem Zug oder mit Lastwagen», sagt Petriv: «Und bei der Anmeldung des Umzugs beim Militär. Es herrscht ja Kriegsrecht bei uns. Die Armee will wissen, wo die männlichen Ukrainer sind und die Firmen, die auf militärisch relevante Güter umstellen könnten.»
Wie in jedem Krieg gibt es auch in diesem jene, die alles verlieren, andere, die mit Ach und Krach überleben, und Dritte, die sehr viel Geld machen.
Der Zug nach Westen ist nicht nur eine ökonomische Ausweichbewegung, sondern auch ein politisches Symptom. Der Optimismus der Ukrainer ist nach vier Wochen des Standhaltens gegenüber einer der grössten Armeen der Welt riesig. So sehr die meisten allerdings vom sicheren Sieg ihres Landes über die russischen Angreifer ausgehen, so nüchtern kalkulieren sie den Zeitraum. «Ich gehe davon aus, dass der Krieg noch Jahre dauert», sagt der Hotelier Jurij Solowej in Iwano-Frankiwsk, zwei Autostunden von Lwiw entfernt. Das elegante Hotel Reikartz ist doppelt so voll wie vor dem Krieg und praktisch ausgebucht, neben Flüchtlingen ist eine ganze IT-Firma eingezogen. Nein, einen Preisnachlass gewähre er den Flüchtlingen nicht, immerhin habe er die Preise auch nicht erhöht, wie andere es tun. Vielmehr sammele er mit anderen Unternehmern Geld, um humanitäre Hilfe nach Osten zu schicken.

Deutlich wird daran zweierlei. Wie in jedem Krieg gibt es auch in diesem jene, die alles verlieren, andere, die mit Ach und Krach überleben, und Dritte, die sehr viel Geld machen. Noch redet darüber im Einheits- und Widerstandsrausch keiner so recht, aber dass ukrainische Immobilienmakler die grossen Gewinner des russischen Einmarsches sind, weil sie – Patriotismus hin oder her – Fantasie-Provisionen von Landsleuten in Zwangslagen nehmen, dafür hat fast jeder ein Beispiel. Solowej, der ausserdem regionaler Parteichef von «Udar» ist, der Partei des einstigen Präsidentschaftskandidaten und jetzigen Kiewer Bürgermeisters Witali Klitschko, sieht weitere Gewinner: Vom Wiederaufbau werde die Bauindustrie profitieren, andere Wachstumssektoren seien der IT-Sektor, die Lebensmittelindustrie und die Rüstungsindustrie. In den acht Jahren seit der russischen Annexion der Krim hat die Ukraine zwar eine schlagkräftige Armee aufgebaut, aber die Rüstungsindustrie, für die die Ukraine zu Sowjetzeiten einst bekannt war, wurde nicht modernisiert.
Konkurrenz der Regionen
Auch Aimbulance, die fünfgrösste Marketing-Agentur des Landes mit 100 festen und freien Mitarbeitern und dem ursprünglichen Sitz in Kiew, ist inzwischen nicht nach Lwiw, sondern nach Iwano-Frankiwsk umgezogen. Gewiss, man habe Einbussen durch den Krieg, heisst es aus der Geschäftsleitung, sogar um 70 Prozent, sei aber optimistisch, dass das Geschäft bald wieder läuft.
Die Konkurrenz der Regionen im Westen um die Firmen im Osten hat begonnen. «In den ersten zwei Wochen des Krieges wollten die Firmen im Osten nur raus», erinnert sich Petriv: «Aber inzwischen überlegen die Firmen beispielsweise in Charkiw sehr genau, wo sie im Westen ideale Standortbedingungen finden.»
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