«Der Konflikt mit den Touristen wird sich zuspitzen»
Soll man weiter in überlaufene Städte wie Barcelona und Venedig reisen? Tipps von Tourismusprofessor Urs Wagenseil.
In vielen europäischen Städten kam es letztes Jahr zu Protesten gegen Touristen. Was erwarten Sie für diesen Sommer?
Der Konflikt wird sich zuspitzen. Die beliebtesten Städte werden noch mehr nachgefragt werden. Der Wirtschaftsmotor läuft weltweit, und die meisten Leute wollen nun mal die Hauptsehenswürdigkeiten eines Landes sehen.
Sie rechnen demnach mit noch mehr Protesten der Bewohner.
Ja. Die Unzufriedenheit der Bewohner vieler Touristenstädte wächst. Selbst in Luzern gibt es die Diskussion, ob es in der Stadt zu viele Touristen aus Asien hat.
Barcelona ist ein Zentrum der Proteste und ein Opfer des eigenen Erfolgs. In Lissabon wächst aufgrund des Besucherbooms die Befürchtung, ein zweites Barcelona zu werden. Welchen anderen Städten in Europa droht ein ähnliches Schicksal?
Jede europäische Hauptstadt ist gefährdet. Die Erreichbarkeit nimmt permanent zu. Wir haben Direktflüge, dank den Billigairlines auch sehr günstige. Dann gibt es Fernbusse, Züge – also ganz viele Möglichkeiten, um von A nach B zu kommen. Akzentuieren wird sich die Situation in Städten mit Hafenlage. Dort, wo Kreuzfahrtschiffe anlegen und die Touristenströme nach dem Motto «Tür auf und los» in die Stadt einfallen. Das Phänomen gibt es auch im Kleinen, zum Beispiel im norwegischen Tromsö, einer Station der Hurtigruten-Schiffe. Städte, in denen die Zahl der Touristen explodieren könnte, gibt es in Europa mehrere.
Die da wären?
In Dubrovnik wird sich die Situation nochmals zuspitzen, Amsterdam könnte Probleme bekommen, Lissabon, allenfalls Dublin. Oder eine Stadt wie Krakau, die von vielen Billigairlines angeflogen wird.
Die Flugindustrie rechnet damit, dass sich die Zahl der Flugbewegungen in den nächsten 15 Jahren verdoppelt. Viele Asiaten haben das Reisen noch gar nicht entdeckt. Das deutet darauf hin, dass der sogenannte «Übertourismus» in den Städten erst am Anfang steht.
Davon ist auszugehen. Die globalen Touristenströme werden grösser. Und weil alle das Gleiche sehen wollen, kommt es an bestimmten Orten zu einer Verdichtung. Jetzt stellt sich die Frage: Wie lässt sich das eindämmen?
Täuscht der Eindruck, oder stehen die Städte dem Problem ratlos gegenüber? Durch innovative Lösungen ist bisher keine aufgefallen.
Die Lösungsfindung ist sehr zeitintensiv. Das Problem wächst aber sehr rasch und dynamisch. Ausserdem geht es um Emotionen und Empfindungen der Bewohner. Wann ist das Mass voll? Erschwerend kommt hinzu: Die Städte können nur reagieren. Tourismus lässt sich schlecht proaktiv reglementieren.
Wie lassen sich denn in einer touristifizierten Stadt wie Barcelona oder Lissabon die Besucherströme lenken?
Die Regierung kann Airbnb verbannen, keine weiteren Betten mehr erlauben oder keine neuen Hotels in der Kernzone. Ein Regulatorium ist aber eine sehr komplexe Sache. Auch weil die Stadtbehörden gar nicht alle Entscheidungskompetenzen haben. In der Theorie könnte die Regierung den Hoteliers sagen: Verdreifacht in der Hochsaison die Preise, das reduziert die Nachfrage. Nur wird kein Hotelier mitspielen. Die Behörden sind nicht immer handlungsfähig. Ausserdem dauert es im Normalfall lange, bis Gesetze erlassen sind. Und ob diese dann Sinn ergeben? Wenn zum Beispiel in der Kernzone von Barcelona kein Hotel mehr gebaut werden darf, weichen Investoren direkt an die Grenze dieser Zone aus. An den Ramblas hat es deswegen nicht weniger Leute. Einige haben einfach einen längeren Anreiseweg.
Immer öfter gibt es Kontingente für Hauptsehenswürdigkeiten, wie zum Beispiel die Sagrada Família in Barcelona oder die Alhambra in Granada. Sind sie mehr als nur ein kosmetischer Eingriff?
Ja, solche Massnahmen müssen Städte ins Auge fassen. Es braucht Kontingente und dynamischere Preismodelle.
Das hiesse, der Besuch von Sehenswürdigkeiten wäre am frühen Morgen oder in der Nebensaison billiger. Gibt es dazu erste Erkenntnisse?
Das ist ein neues Modell. Bislang haben Anbieter mit unterschiedlichen Tarifen unter der Woche und am Wochenende operiert. Aber es wird mehr und mehr Richtung Steuerung der Tageszeiten gehen. Nur: Mit solchen Modellen wird bloss die Auslastung optimiert. Am Ende ist es zu jeder Tageszeit voll – und dann haben wir einen 24-Stunden-Betrieb, bis alle Kapazitäten ausgeschöpft sind. Und ein solches Modell funktioniert im öffentlichen Raum nicht. In Zürich lassen sich keine Kontingente für die Bahnhofstrasse oder fürs Bellevue einführen. Gewisse Auswüchse des Massentourismus lassen sich also gar nicht vermeiden.
Mit dem Massentourismus einher geht die Aushöhlung der Stadtzentren. Hausbesitzer vermieten lieber teuer an Touristen, der Wohnraum für die lokale Bevölkerung wird knapp. Palma de Mallorca will Airbnb verbieten, Amsterdam die Hürden für Vermieter erhöhen. Machen diese Beispiele Schule?
Ja, Regierungen müssen in diese Richtung gehen, wenn sie die Kernstädte für ihre Bewohner erhalten wollen. Im Moment ist es so, dass jeder Eigentümer sein eigenes Businessmodell haben kann. Am Ende verkommen Stadtteile zu einem grossen Hotel mit lauter fremden Betten. Sobald es Auswüchse gibt, wie zum Beispiel den Exodus der Bewohner in Venedig, müsste eine Regierung handeln. Es wird deshalb zu neuen Gesetzen und Verboten kommen.
Sollten Gäste in touristischeren Städten überhaupt noch Ferien machen in Airbnb-Wohnungen?
Dazu gibt es keine pauschale Antwort. Man kann das Reisen auch grundsätzlich infrage stellen. Ergibt es Sinn, sich zum Vergnügen von A nach B zu verschieben und dafür mehrere Tonnen CO2 zu generieren? Reisen ist selten nachhaltig, oft verwerflich oder zumindest kritikwürdig. Jeder von uns sollte sich deshalb fragen: Kann ich mein Reiseverhalten sozialer und umweltverträglicher machen? Jeder.
Wie entkommen Reisende, die Städte nicht «kaputtbesuchen» möchten, dem ganzen Dilemma?
Sie sollten nach Möglichkeit nicht in der Hauptsaison reisen. Und sich dann wirklich Gedanken machen, welche Folgen ihre Reise sozial, ökologisch und ökonomisch hat. Wer im Hotel einer grossen Kette absteigt, lässt zwar Geld in der Stadt, aber eigentlich fliesst es gleich ab an den Hauptsitz der Kette. Das ist nicht nachhaltig. Noch weniger sind es Last-Minute-Angebote von Easyjet oder Ryan Air für 120 Franken.
Der vielleicht grösste Sehnsuchtsort Europas, Venedig, ist längst zum Museum seiner selbst geworden. Gibt es eine Möglichkeit, die Stadt zu retten?
Im Fall von Venedig liesse sich einiges optimieren, aber es wird schmerzen. Die Regierung müsste die Zahl der Kreuzfahrtschiffe und Flüge einschränken. Aber kann sie mit den wirtschaftlichen Konsequenzen leben? Und wollen es die Leute, die von der Entwicklung und dem Massentourismus profitiert haben?
In der Schweiz ist Luzern die Stadt, die am ehesten unter den Nebenwirkungen des Tourismus leidet. Sie lehren dort. Wie schätzen Sie die Lage ein?
Es ist ein Jammern auf hohem Niveau. Wir reden von extrem punktuellen Momentaufnahmen auf der Kapellbrücke oder am Schwanenplatz. Es gibt viele Städte, die sehr viel stärker vom Tourismus betroffen sind. Die Luzerner Probleme sind im internationalen Vergleich Peanuts.
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