Der Kampf um die Ehe ist eröffnet
Wertedebatte: Schlagworte wie «Polygamie» gefährden die dringend nötigen Anpassungen des Familienrechts.

Für den «Spiegel» war das schweizerische Familienrecht bereits 1979 so veraltet, dass es dem deutschen Magazin eine Reportage wert war. Darin erzählt der Obwaldner Staatsanwalt Jost Dillier, wie er die standesamtlichen Heiratsanzeigen untersucht. «Und wenn Dillier bei zwei Heiratslustigen die gleiche Wohnadresse entdeckt, setzt er seine Kantonspolizisten in Marsch: Falls Braut und Bräutigam in der gleichen Wohnung leben, gibt es eine Anklage wegen Konkubinat», schrieb «Der Spiegel». Die wilde Ehe gefährde die «geistigen Grundlagen des Volkes», erklärte ein Obwaldner Richter das strenge Vorgehen.
Diese Zeiten sind vorbei – zum Glück. 1995 schaffte das Wallis als letzter Kanton das Konkubinatsverbot ab. Bereits seit den 60er-Jahren leben immer mehr Menschen ohne Trauschein zusammen. Die Scheidungsrate hat sich in der Zeit fast verfünffacht. Es gibt kinderlose Ehen, Altersehen, alleinerziehende Eltern, Familien, die durch fortpflanzungsmedizinische Massnahmen zustande gekommen sind, Patchworkfamilien, nicht eheliche Lebensgemeinschaften, gleichgeschlechtliche Paare und Regenbogenfamilien. Dennoch bevorzugt der Staat via Gesetze nach wie vor die traditionelle bürgerliche Kleinfamilie. Ein Lebenspartner hat nicht automatisch das Recht, seine verunfallte Lebenspartnerin auf der Intensivstation zu besuchen. Auch wenn es um die finanzielle Absicherung nach einem Todesfall geht, sind Lebenspartner schlechter gestellt als Ehepartner.
Mögliche neue Regelungen bis Ende Jahr
Justizministerin Simonetta Sommaruga hat das Problem erkannt. Sie will das Familienrecht überprüfen und anpassen. Im Juni findet eine Tagung statt, an der verschiedene Gutachten diskutiert werden, die das Justizdepartement (EJPD) in Auftrag gegeben hat. Bis Ende Jahr will das EJPD in einem Bericht mögliche neue Regelungen aufzeigen. Das von der «NZZ am Sonntag» publik gemachte Gutachten der Basler Privatrechtsprofessorin Ingeborg Schwenzer denkt den gesellschaftlichen Wandel radikal weiter: Die symbolisch aufgeladene Ehe wird zugunsten der Lebensgemeinschaft zurückgestuft. Selbst das Verbot polygamer Ehe könne diskutiert werden. Punkto Adoption sollten verheiratete, nicht verheiratete, verschiedengeschlechtliche und gleichgeschlechtliche Paare gleiche Rechte haben. Dass Sommaruga die progressive Basler Professorin mit dem Gutachten beauftragte, zeigt: Sie ist entschlossen, das Thema offensiv anzugehen. Das ist grundsätzlich richtig. Aber es gefährdet gleichzeitig pragmatische Diskussionen. So braucht es auch für Lebensgemeinschaften verbindliche Regeln: Ab wann gilt ein Paar als Lebensgemeinschaft? Welche Beweise braucht es dafür?
Ob die Politik dazu kommt, solche wichtigen Fragen zu klären, ist fraglich. Die öffentliche Debatte wird sich nämlich nicht um nötige Anpassungen, sondern um heftig umstrittene Grundsätze drehen. Der Widerstand wird sich an Schlagworten wie «Homo-Ehe» oder «Polygamie» entzünden. Die erste Angriffsfläche bietet die Bundesrätin mit dem veröffentlichten Gutachten gleich selber an. Wolle die Gesellschaft weiterkommen, gebe es keine Alternative zur traditionellen Ehe, sagte etwa SVP-Nationalrat Toni Bortoluzzi. Auch andere konservative Politiker werden den Steilpass dankbar annehmen.
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