Der Hausmayr
Jean-Claude Juncker hat Martin Selmayr zum neuen Generalsekretär der EU-Kommission ernannt. Dessen Glaube an ein vereintes Europa wirkt wie ein Fluchtversuch vor dem Deutschsein.

Das eigentliche Problem der Europäischen Union wurde am Mittwoch auf einer Pressekonferenz in Brüssel sichtbar. Eben hatte Jean-Claude Juncker, der luxemburgische Präsident der EU-Kommission, überraschend verkündet, der Deutsche Martin Selmayr werde am 1. März neuer Generalsekretär der Behörde. Ob deutsche Beamte dort nicht schon jetzt übervertreten seien, fragte ein Journalist. «Wir sind in der Kommission Europäer», entgegnete Juncker, laut Augenzeugen sichtlich genervt. Zwei Männer redeten aneinander vorbei.
Selmayr, 47, sieht sich selbst zweifellos als Europäer. 2014 ernannte ihn Juncker zu seinem Kabinettschef. In dieser Funktion gelang ihm, was nicht viele EU-Beamte schaffen: Er erarbeitete sich einen Ruf, der über Brüsseler Korridore hinausreicht. Für konservative Londoner Zeitungen ist er das «Monster des Berlaymont», das ihr Land für den Brexit bestrafen will. «Rasputin» nannte ihn das deutsche Monatsmagazin Cicero. Ein originelleres Bild fand das britische Pendant Standpoint: Selmayr sei wie ein Hausmeier der Merowingerzeit, einer jener Höflinge, denen man mehr Macht zusprach als den meisten Königen.
Junckers Mann?
Hinter all diesen Zuschreibungen steht eine Frage: Ist Selmayr «Junckers Mann», wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt, oder verhält es sich längst umgekehrt? Ende 2019 wird Juncker wohl gehen. Sein Hausmeier dürfte bleiben. Als Generalsekretär wird Selmayr an den Sitzungen der Kommission teilnehmen und deren Tagesordnung mitbestimmen. Insider beschreiben ihn als ebenso ehrgeizig wie selbstbewusst. «Worin unterscheiden sich Gott und Selmayr?», soll Wolfgang Schäuble einmal rhetorisch gefragt haben. Seine Antwort: «Gott weiss, dass er nicht Selmayr ist.»
Den Verdacht, dass Selmayrs Glaube an ein vereintes Europa auch ein Fluchtversuch vor dem Deutschsein ist, legt seine Familiengeschichte nahe: 1948 verurteilte ein Belgrader Gericht seinen Grossvater Josef wegen Kriegsverbrechen zu 15 Jahren Haft. Über seine Erfahrungen als Häftling auf dem Balkan schrieb Josef Selmayr später ein Buch, «Die grosse Pause». Allzu lange dauerte diese für ihn nicht: Bereits 1950 wurde er vorzeitig begnadigt. Im Kalten Krieg wollte das neue, demokratische Deutschland nicht ohne ihn auskommen. Von 1955 bis 1964 amtierte Josef Selmayr als erster Direktor des Militärischen Abschirmdienstes. 2005 starb er im Alter von 100 Jahren.
Ein Turm aus Bauklötzen
Martin Selmayr wuchs in Bonn auf, wo sein Vater Gerhard in den Sechzigerjahren im Kanzleramt tätig war. Seine Beamtenlaufbahn startete Martin, ein brillanter Jurist, 1998 bei der Europäischen Zentralbank in Frankfurt. Seit 2004 arbeitet er für die EU-Kommission und baut dort mit an den Vereinigten Staaten von Europa.
Ereignisse wie der Brexit oder der Aufstieg populistischer Protestparteien scheinen ihn dabei nicht anfechten zu können. Ein wenig erinnern Selmayr und seine Kollegen damit an Kinder, die einen Turm aus Bauklötzen aufschichten: Je heftiger dieser zu wackeln beginnt, desto eifriger bauen sie weiter.
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