Der gefährlichste Babysitter der Schweiz
Warum der Zulauf der Dienstpflichtigen in den Zivildienst ungebrochen ist: Ein ehemaliger Grenadier berichtet.

Es sind die Geschichten meines Vaters, die mich auf den steinigen Weg einer Grenadier-Rekrutenschule geführt haben. Schon in meiner Kindheit erzählte er mir, wie seine Kompanie damals in den 70er-Jahren halsbrecherische Missionen unternahm. Für ihn war es eine Ehre, im berüchtigten Isone zu dienen. Noch heute erfüllt es ihn mit Stolz. Nun, nachdem ich seinem Vorbild gefolgt bin, blicke ich skeptisch auf die Schweizer Milizarmee.
Was ich während der RS erlebte, ist beispiellos. Ich befand mich zwar noch auf Schweizer Boden, schien mich jedoch in einer anderen Welt zu bewegen. Die 25-wöchige Pionierausbildung stellt eine schier endlose Zerreisprobe für Körper und Geist dar. Schweisstreibende 20-Stunden-Tage ohne jegliche Art von Privatsphäre sowie kurze Wochenenden sind zu Beginn der Rekrutenschule der Normalfall. Jeder bemüht sich darum, die Selektionsphase zu überstehen und bis zur finalen Prüfung «Hercules» dabei zu bleiben. Die Rekruten wissen anfangs kaum mehr voneinander als die Nachnamen – kämpfen jedoch bedingungslos für jeden Einzelnen. «Honore, Unitas, Modestia» (Ehre, Einheit, Bescheidenheit): Dieser Verhaltenskodex sowie das bekannte Motto «Semper Fidelis» (Immer treu) wurden mir sechs Monate lang eingeimpft. Werte, die ich noch immer in mir trage, aber nie mit einer zwingenden Verpflichtung gegenüber der Schweizer Armee verbunden habe.
Ein Klick genügte, um vom Infanteriegrenadier zum Kleinkind-Erzieher zu wechseln.
Mein Hauptmotiv für den Entscheid, Grenadier zu werden, war der Wille, mir selbst etwas zu beweisen sowie das Verlangen nach Herausforderungen. Ehrgeiz also – nichts von wegen Vollblutpatriot. Ich hatte nie ein Problem damit, Diensttage zu leisten. Ich empfinde es als ausserordentliches Privileg, in diesem Land leben zu dürfen. Da darf man auch ein bisschen mehr zurückgeben als die jährliche Steuer.
Zwangsferien im Dienste der Schweizerischen Eidgenossenschaft, besser bekannt als Wiederholungskurse (WK) waren von vornherein nicht Teil meines Plans. Bereits vor Beginn der RS konnte ich mich durch Gespräche mit langjährigen Grenadieren vergewissern, dass die WKs nicht mehr zu bieten haben als das bereits Erlebte. Im Gegenteil: Der goldene Schein der Schweizer Armee-Elite trügt. Viele Soldaten nehmen die WKs nicht ernst und sehen die drei Wochen auf dem Berg als obligatorische Arbeitsauszeit, in welchen die Freuden des Soldatendaseins in vollen Zügen ausgenutzt werden dürfen. Typische Beispiele dafür sind Alkoholexzesse im Ausgangstenue oder der übertrieben hohe Munitionsverbrauch auf den Schiessplätzen.
Teures Ferienlager
Trotz meiner kompromisslosen Entschlossenheit, die Grenadier-Medaille in den Wind zu schlagen, lastete der Gewissensdruck schwer auf meinen Schultern. Mir ist durchaus bewusst, wie unehrenhaft ein solcher Entscheid in Kreisen der Grenadiere ist. Jedoch würde ich keine Minute im wahrscheinlich ineffizientesten und gleichwohl teuersten Ferienlager der Schweiz verbringen wollen – Stolz und Ehre hin oder her. Meine Dienstzeit würde also mit einer Grenadier-RS beginnen und als Zivildienstleistender in einem mir bisher fremden Arbeitssektor, dem sozialen, enden.
Ich war erstaunt, wie einfach der Wechsel vonstattenging. Keine schriftliche Begründung, kein Interview. Ein Klick auf der ZIVI-Webpage genügte, um vom «AdA» (Angehörigen der Armee) zum «Zivi» (Zivildienstleistender) zu wechseln – vom Infanterie-Grenadier zum Kleinkind-Erzieher.
Immerhin bin ich nun der gefährlichste Babysitter im schönen Baselbiet.
Kleinkind-Erzieher brauchen erstaunlicherweise ähnliche Attribute wie Grenadiere: unendliche Geduld, um schreiende Kinder tagelang auszuhalten, starke Oberarme, um diese den ganzen Tag herumzutragen sowie grosse Sorgfalt bei der Einhaltung der Sicherheitsstandards. Ich kann meine Zeit im Armee- und Zivildienst kaum vergleichen. Die Aufgabenstellung sowie meine Ansprüche waren schlicht zu verschieden. Mein Grundgedanke, den grösstmöglichen Lerneffekt aus meiner Dienstzeit als Grenadier und Kleinkind-Erzieher zu ziehen, ist jedoch optimal aufgegangen: Immerhin bin ich nun der gefährlichste Babysitter im schönen Baselbiet.
Mit der Einstellung «Egoismus vor Patriotismus» bin ich gewiss nicht der Einzige. «Abschleicher» nennt Bundesrat Johann Schneider-Ammann, oberster Chef des Zivildienstes, junge Schweizer, die ohne echte Gewissensbisse vom Militär in den Zivildienst wechseln. Jährlich werden über 6000 Zivildienstgesuche genehmigt. Davon sollen schätzungsweise drei Viertel nicht legitim sein. Ob sich der Bundesrat gefragt hat, wieso jeder zweite Taugliche in den Zivildienst wechselt?
Die Wehrpflicht ist durch den Militärdienst, den Zivildienst, den Zivilschutz oder den Wehrpflichtersatz zu leisten. Vorausgesetzt man ist gewillt und tauglich, verbleiben Militär- und Zivildienst. Die Zeit in Grün dauert, gemessen in Tagen, wesentlich kürzer. Das Selbstbestimmungsrecht – wie in einer Armee üblich – ist jedoch extrem eingeschränkt. Im Zivildienst hingegen hat man die Möglichkeit, unter der Woche zu Hause zu schlafen. Ausserdem gibt es ein breiteres Tätigkeitsangebot mit persönlichem und/oder beruflichem Wert.
Armee sieht schlecht aus
Kommt das selbstlose Kriterium des Nutzens für die Gesellschaft hinzu, fällt das Ergebnis noch deutlicher aus. Neben dem Zivildienst, welcher in Altersheimen und Kindertagesstätten einen sinnvollen Beitrag für die Bevölkerung leistet, sieht das Militär schlecht aus. Mit rissigen Kampfflugzeugen und etlichen demotivierten Offizieren kommt die schweizerische Landesverteidigung einer Alibi-Armee nahe. Dass eine Milizarmee funktionieren kann, beweist Israel. Dort gilt ausserdem eine geschlechterunabhängige Dienstpflicht. Doch dass sich die Schweiz mit der Genderfrage schwertut, ist nichts Neues (Einführung des Frauenstimmrechts 1971).
Es ist deshalb also kein Wunder, dass der Militärdienst an Popularität verliert. Will die Armee ernst genommen werden und den weiteren Abgang von Rekruten verhindern, muss sie sich selbst an der Nase nehmen. Grundlegende Veränderungen in Sachen Attraktivität und Organisation sind äusserst notwendig. Den Zivildienst als Sündenbock für sinkende Armeebestände hinzustellen, ist zu kurz gegriffen.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch