Randständige machen RadauDer ganz normale Wahnsinn vor dem Bahnhof SBB
Beim Bahnhofseingang am Centralbahnplatz wird herumgepöbelt und geschlägert. Ladenbesitzer sind besorgt. Die Polizei versucht, die Lage unter Kontrolle zu halten. Ein Rundgang.

Die Sonne ist untergegangen. Der Bahnhof Basel SBB strahlt in die Dunkelheit hinaus wie eine Kathedrale. Doch wo Licht ist, ist auch Schatten. Unter dem Vordach neben dem Eingang stehen und liegen Männer und Frauen, vom Leben gezeichnet. Flaschen kreisen. Zigaretten glimmen auf. Ein Mann hat eine Musikbox in Betrieb gesetzt, deren irrer Sound bis zu den Tramhaltestellen zu hören ist. Es riecht nach verschüttetem Bier und Urin. Es riecht nach Elend.
Einer brüllt etwas Unverständliches hinaus in die Nacht. Ein anderer brüllt zurück, ein Dritter beginnt zu schreien. Wenn man abends am Bahnhofsvorplatz vorbeigeht, wirkt der Ort oft wie eine düstere, furchteinflössende Gegenwelt zum Bahnhofsinnern mit seinen hell erleuchteten Geschäften und Cafés.
Andreas Jäggin (53) kennt sich in beiden Bahnhofswelten aus: der Innen- und der Aussenwelt. Er arbeitet seit 1998 bei der Kantonspolizei Basel-Stadt. Seit ein paar Jahren ist er Quartierpolizist im Rahmen des «Community Policing». Diese Abteilung kommt zum Einsatz, wenn sich Anwohner gestört fühlen und es gilt, Konflikte in einem Quartier bürgernah zu lösen. Das heisst: erst mal mit Zuhören und Reden, mit Vermittlungsarbeit statt mit reflexartiger Repression.
«Wir sind in etwa das, was die Hausärzte im Gesundheitswesen sind», sagt Jäggin: «Eine Instanz, die sich eines Problems niederschwellig annimmt, bevor es grösser wird, und bei Bedarf kompetente Spezialisten beizieht oder an diese vermittelt, etwa Quartierorganisationen, soziale Institutionen oder staatliche Stellen.»
An einem Mittwochnachmittag im März ist Jäggin wieder einmal unterwegs in seinem Revier. Es reicht vom Bahnhof über den Dreispitz bis hinunter zum Stadion St. Jakob. Der Himmel ist postkartenblau. Es weht eine schneidende Bise, die auch die Randständigen vor dem Bahnhof für ein paar Stunden vertrieben zu haben scheint.
Jäggin wird begleitet von Ralph Studer. Beide tragen Uniform. An ihren Gürteln hängen Dienstpistole, Reizgas, Schlagstock. Doch ihre Waffen sind in erster Linie der Dialog, das Gespräch. Sie sind zwar Ordnungshüter, die bei Delikten die Handschellen oder den Bussenblock zücken können. Ebenso sehr sind sie aber auch Mediatoren, die auch mal einfach einen Streit schlichten, statt strafend zu intervenieren.
Unmittelbar neben dem Eingang zum Ostflügel des Bahnhofs sitzt eine Frau am Boden. Sie ist eingehüllt in bunte Kleidung. Um den Kopf hat sie ein Tuch geschlungen, vor ihr steht ein Becher – eine Bettlerin. Jäggin und Studer gehen auf sie zu. «Ihren Ausweis, bitte!» Die Rumänin hält sich legal in Basel auf, drei Monate darf sie ohne Visum in der Schweiz bleiben. Betteln aber, erklärt ihr Jäggin freundlich, sei nur ausserhalb eines Fünf-Meter-Rayons vom Bahnhof weg erlaubt. Brav sucht sich die Frau einen neuen Platz etwas weiter entfernt vom Eingang.
Immer wieder Schlagzeilen
Nun bevölkern sich die Bänke unter dem Bahnhofsvordach allmählich doch noch. Ein paar Männer rauchen und diskutieren lautstark. «Das sind Rumänen mit einer Jahresaufenthaltsbewilligung», sagt Jäggin. «Ich kenne sie, ich habe auch schon mit ihnen geredet. Es sind etliche arbeitslose Lastwagenfahrer darunter, die in Basel gestrandet sind, von ihnen gibt es derzeit viele.»
Ein Mann, der seinen Hund an langer Leine führt, geht schwankenden Schrittes am Duo vorbei. «Guten Tag!», ruft er. Der leise Spott in seiner Stimme ist unüberhörbar. «Guten Tag», ruft Jäggin zurück. Viele Randständige kennt er persönlich, und sie kennen ihn. «Den Ausdruck ‹Randständige› mögen sie übrigens nicht», sagt Jäggin. «Ich nenne sie ‹Stammkunden›.»
Vor einem Monat beging ein Unbekannter ein Sexualdelikt an einer 46-jährigen Frau in der Toilettenanlage beim Veloparking unter dem Centralbahnplatz. Es geschah am helllichten Tag. Immer wieder macht der Bahnhof SBB Schlagzeilen. «Mann löst durch verbale Drohungen einen Einsatz der Kantonspolizei im Bahnhof SBB aus», hiess es beispielsweise vergangenen Oktober. Und im Juni 2022 meldeten die Medien: «38-jähriger Mann bei Streit vor dem Basler Bahnhof SBB mit Stichwaffe verletzt.»
Ein permanenter Brennpunkt der Kriminalität sei der Bahnhof SBB gleichwohl nicht, betont die Kantonspolizei Basel-Stadt. In der Steinenvorstadt oder vor allem im Sommer an der Flaniermeile am Rhein gehe es oft viel heisser zu und her.
«Schlechte Visitenkarte»
Auch die SBB, Hausherrin im Innenbereich des Bahnhofs, teilen auf Anfrage mit, die Sicherheitslage sei dort «stabil». Von Passanten und Angestellten der Geschäfte im Bahnhof – die weder ihren Namen noch denjenigen ihres Arbeitgebers in der Zeitung lesen möchten – klingt es allerdings ein bisschen anders.
«Die Randständigen auf dem Vorplatz geben eine sehr schlechte Visitenkarte für Basel ab», sagt ein Geschäftsführer, der im Ostflügel des Bahnhofs arbeitet, «viele Schweizer Bahnhöfe sind weit weniger schlimm als derjenige in Basel.» Ein Verkäufer klagt über häufige Diebstähle und Schlägereien. Er sagt: «Ich selber kann mich wehren, aber meine jungen weiblichen Angestellten reagieren verängstigt, wenn sie von den Alkis und Drogenkonsumenten vor dem Bahnhof belästigt werden.»
Eine Verkäuferin, die in Olten wohnt und täglich an ihren Arbeitsplatz im Bahnhof-Westflügel pendelt, konstatiert: «Vor dem Bahnhofseingang ist praktisch immer Radau. Ich fürchte mich nicht vor Unruhestiftern. Aber unangenehm ist die Situation durchaus.» Eine andere Frau sagt: «Ich arbeite seit ein paar Monaten im Bahnhof SBB. Als ich hier anfing, hatte ich ein mulmiges Gefühl, wenn ich an den Randständigen vorbeiging. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt.»
Eine Dame aus Obergösgen, auf Besuch bei ihrem Vater in Basel, verlässt gerade das Perron. «Die Bier trinkenden Leute auf dem Bahnhofsvorplatz machen mir Angst», sagt sie. «Nachts möchte ich hier jedenfalls nicht unterwegs sein müssen.»
Objektive Sicherheit und subjektives Sicherheitsgefühl klaffen offensichtlich auseinander. Andreas Jäggin hat Verständnis für die Ängste. Er hat auch schon Bussen verteilt und Leute verhaftet, wenn das Gesetz gebrochen wurde. Er sagt aber: «Wir können Menschen auf dem Bahnhofsvorplatz nicht einfach vertreiben, weil sie einer gewissen Gruppierung angehören. Auch sie haben das Recht, sich im öffentlichen Raum aufzuhalten.» Die Randständigen zu vergrämen, sei nicht das primäre Ziel seiner Arbeit. «Laut werden», sagt er, «kann ich aber schon, wenn es sein muss.»
Noch ist es an diesem Mittwochnachmittag relativ ruhig vor dem Bahnhof. Stunden später wird sich das ändern: Wenn die Dämmerung einsetzt, machen hier wieder Wodkaflasche und Joints die Runde, es wird gebrüllt, gepöbelt und geschlägert. Jäggins Kundschaft ist dem Ort treu. Resignieren mag der Polizist deswegen nicht, obwohl er Sisyphusarbeit leistet. «In meinem Job braucht man viel Geduld», sagt er, bevor er seine Patrouille mit Ralph Studer fortsetzt.
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