VerschwörungserzählungDer «Fall Nathalie» – die Hölle im Kopf
Die Geschichte von Nathalie entsetzte: Ein kleines Mädchen, das vom eigenen Vater missbraucht worden sein soll. Was dahintersteckt.

Das ist die Geschichte einer Gruppe Menschen aus der Region Basel, die Kinder vor dem Bösen schützen wollen. Und dabei Leben zerstören. Es ist eine Geschichte rund um Missbrauchsvorwürfe, einen Staatsfeind, Kindesentführung, eine Verschwörungstheorie und die Praktiken eines Psychiaters. Das ist die Geschichte hinter dem «Fall Nathalie».
Nathalie (Name geändert) tanzt durch den Gemüsegarten. Sie hat ihn selbst angelegt. Das kleine Mädchen scheint zufrieden. Hinter der Kamera erzählt ihr Vater, welche Pflanzen die beiden ausgesucht haben. Erinnerungen an einen schönen Sommertag. Nichts daran wirkt verdächtig.
Zu diesem Schluss kommen Angestellte der Kriminalpolizei, die das Video im Mai 2020 sichten. Sie suchen auf der Kamera und dem Handy des Vaters nach Bildern und Fotos, die einen schweren Vorwurf belegen könnten: dass er seine eigene Tochter sexuell missbraucht.
Die Polizei sucht nach Schwertern und Drogen
Doch sie finden nichts. Nicht in seinem Zimmer, nicht im Keller, nicht in seinen Notizen, seiner Agenda, seinen E-Mails oder anderen Nachrichten. Die Beamten halten insbesondere auch Ausschau nach Waffen, Pfeilbogen, Schwertern, Spritzen, Drogen und satanistischen Bildern – umsonst.
Den Startschuss zu den umfangreichen Ermittlungen, die knapp zweieinhalb Jahre dauern werden, gab wenige Monate vor der Hausdurchsuchung der Besuch einer Frau auf einer Polizeiwache in der Region Basel. Sie verlangt, dass man ihrem Ex-Mann das gemeinsame Sorgerecht für die Tochter entzieht.
Er habe dem Kind mehrfach sein Geschlechtsteil gezeigt und daran hantiert. Ausserdem habe die Tochter immer mit dem Vater aufs WC gehen müssen. Schwierig findet die Mutter auch den Besuch eines Nacktbadestrandes, zu dem der Vater das Mädchen mitgenommen habe. Sie übergibt dem Polizisten Dokumente, die ihre Erzählung beweisen sollen.
Horrorgeschichten vor dem Einschlafen
Bei einer Einvernahme durch die Staatsanwaltschaft einige Tage später wiederholt sie die Vorwürfe gegen ihren Ex-Mann und bringt neue vermeintliche Belege mit. Unter anderem den ersten von mehreren Artikeln der «Basler Zeitung» vom Oktober 2019 zum «Fall Nathalie».
Die Staatsanwaltschaft kann schliesslich – mit Verzögerung durch die Mutter – die damals 7-jährige Nathalie befragen. Das Mädchen gibt die gleichen Anschuldigungen zu Protokoll, wie sie die Mutter schon formuliert hat. Die Staatsanwaltschaft beginnt mit den Ermittlungen gegen den Vater wegen des Verdachts der mehrfachen sexuellen Handlungen mit einem Kind.
Parallel zu den laufenden Ermittlungen treffen bei der Staatsanwaltschaft über Monate hinweg Schreiben mit neuen Details zu den mutmasslichen Übergriffen ein. Gemäss Darstellung der Mutter beginne Nathalie häufig abends vor dem Schlafengehen darüber zu sprechen, wie sie vom Vater missbraucht und halb tot geprügelt worden sei.
Folter und satanistische Messen
Die Schilderungen werden von Tag zu Tag drastischer. Zuletzt ist in den «Gesprächsprotokollen», die von der Mutter des Mädchens sowie weiteren Familienangehörigen verfasst werden, die Rede von Kannibalismus, Folter und satanistischen Messen. Nathalie habe dabei zuschauen müssen, wie Satanisten Babys getötet und ihr Blut getrunken hätten oder wie ihr Vater im Wald Wildtiere gefangen und vergewaltigt habe.
Solche Erzählungen sind typische Elemente einer international verbreiteten Verschwörungstheorie, der sogenannten Satanic Panic. Therapeutinnen oder andere Vertrauenspersonen reden dabei Betroffenen ein, dass sie als Kind von Anhängern Satans rituell missbraucht worden seien.
Dadurch werden Pseudoerinnerungen kreiert, die so stark sind, dass die Betroffenen überzeugt sind, diesen Missbrauch wirklich überlebt zu haben. Bis heute konnte weltweit kein Fall von satanistisch-rituellem Missbrauch, wie er im Rahmen der Satanic Panic behauptet wird, bewiesen werden.
In den USA kam es in diesem Zusammenhang bereits zu einer Reihe von Gerichtsprozessen gegen Therapeutinnen und Therapeuten. Sie wurden wegen Falschtherapie verurteilt.
Der Psychiater
Auch in der Schweiz gibt es Personen, die an die Existenz satanistischer Missbrauchszirkel glauben und Schilderungen darüber als glaubhaft erachten. Recherchen von SRF haben gezeigt, dass unter anderem Lehrpersonen, Mitarbeitende von Beratungsstellen für Opfer sexueller Gewalt oder Psychiater dazugehören.
Einer von ihnen ist offenbar der Baselbieter Werner Tschan. Das zeigen Recherchen der «Basler Zeitung». Der Psychiater gilt als Koryphäe der Psychotraumatologie mit grossem Einfluss. Bei der Überarbeitung des Schweizer Sexualstrafrechts war er als Berater beteiligt. Auch der deutschen Regierung stand er als Sachverständiger zur Seite.
In der Berichterstattung der «Basler Zeitung» zum «Fall Nathalie» kam Tschan schon einmal vor: In einem Interview unterstrich er als Experte öffentlich die Glaubwürdigkeit von Nathalies Aussagen. «Gerade im Bereich der rituellen Gewalt gehen wir davon aus, dass die Opfer gekonnt präpariert werden – mit Gewaltdrohungen und dem gezielten Einsatz von Drogen. Man spricht von Mindcontrol und Programmierungen», sagte er damals.
Auch «Mindcontrol» und «Programmierungen von Opfern» sind ein Teil der Verschwörungserzählung Satanic Panic. Täter sollen die Opfer absolut unter Kontrolle haben und jederzeit steuern können. So sollen die Verbrechen vertuscht werden.
Landesweite Erschütterung
Tschan trat mehrfach an Veranstaltungen auf, an denen die Verschwörungserzählung der satanistischen Missbrauchszirkel verbreitet wird. Und: Nathalie und ihre Mutter sind zum Zeitpunkt des Interviews bei ihm in Therapie. Eine unabhängige Einordnung zum «Fall Nathalie» kann er wohl kaum abgeben. Ob die Mutter schon vor dem Therapiebeginn bei Tschan glaubte, dass ihre Tochter durch den Vater rituell missbraucht wurde, muss offenbleiben. Tschan reagierte nicht auf Anfragen dieser Zeitung.
Die Medien berichten einseitig über den «Fall Nathalie». Die «Basler Zeitung» und die «Solothurner Zeitung» veröffentlichen die Vorwürfe gegen den Vater. Gleichzeitig wird die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) beschuldigt, das Kind nicht vor dem Vater zu schützen, und die Staatsanwaltschaft schone den Mann.
Auch nationale Medien greifen das Thema auf, die Schlagzeilen vom angeblich «satanistischen Vater» erschüttern landesweit. Die «Basler Zeitung» hat in der Zwischenzeit für ihre Berichterstattung im «Fall Nathalie» öffentlich um Entschuldigung gebeten und die entsprechenden Artikel vom Netz genommen.
Das entscheidende Gutachten
Die Betroffenheit der Öffentlichkeit gipfelt Ende 2020 in einem Crowdfunding, bei dem mehr als 80’000 Franken gesammelt werden. Das Geld soll gemäss der Mutter für Anwalts- und Gerichtskosten eingesetzt worden sein.
Die Staatsanwaltschaft muss währenddessen im Rahmen der Ermittlungen herausfinden, ob Nathalies Erzählungen glaubhaft sind. Immerhin stützt sich die ganze Strafuntersuchung auf die Aussagen der zu diesem Zeitpunkt 7-Jährigen. Andere Beweise werden die Ermittler und Ermittlerinnen nie finden.
Als Gutachterin wird die Luzerner Professorin Susanna Niehaus gewählt. Die Psychologin setzt sich seit mehr als zwanzig Jahren damit auseinander, wie glaubhaft Aussagen in Strafverfahren sind, und gilt international als Expertin. Zum «Fall Nathalie» hat sie ein Gutachten verfasst, das 111 Seiten lang ist.
«Beeinflussung in dieser extremen und systematischen Weise dürfte in der forensischen Praxis Seltenheitswert haben.»
Niehaus hält Nathalies Aussagen für unglaubwürdig. Die Erzählungen würden ein «sehr beeindruckendes Ausmass logischer Widersprüche und fantastischer Elemente» aufweisen.
Die Expertin beurteilt auch die Art und Weise, wie der Kreis rund um Nathalies Mutter das Kind zu den belastenden Aussagen gebracht haben soll. «Die Ausführungen von Nathalies Onkel lesen sich aus aussagepsychologischer Perspektive wie eine Anleitung zur Implantation von Pseudoerinnerungen. Beeinflussung in dieser extremen und systematischen Weise dürfte in der forensischen Praxis Seltenheitswert haben», heisst es in dem Gutachten. Sehr eindrücklich sei dabei das «offenkundig fehlende Problembewusstsein» des Verwandten.
Zum gleichen Schluss kommt eine Gutachterin im Auftrag der Staatsanwaltschaft Offenburg (D). Die deutschen Behörden haben mit dem Fall zu tun, weil Nathalie nach Schlagzeilen über den «Schwarzwald-Rambo» Yves R., der unter anderem wegen Geiselnahme verurteilt wurde, Yves R. als Teil des satanistischen Missbrauchszirkels erkannt haben soll.
Auch dieses Gutachten ist eindeutig: «Das Vorliegen einer Pseudoerinnerung ist nicht nur möglich, sondern ganz überwiegend wahrscheinlich», steht da. Die deutsche Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren ein. Sie findet keine Beweise.
Behauptungen «zum Teil physikalisch unmöglich»
Anfang Mai 2022 stellt auch die Staatsanwaltschaft in der Region Basel ihre Ermittlungen ein. Es seien «alle nur erdenklichen Abklärungen und Ermittlungen getätigt worden», um die Anschuldigungen «restlos zu klären». Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass es sich bei der Anzeige um die Fortführung des Sorgerechtsstreits der Eltern handelt.
Es sei «zweifelsfrei klar» geworden, dass die «Erzählungen von Nathalie nicht wahr sind und so nicht stattgefunden haben können». Es sei davon auszugehen, dass die «angeblichen regelmässigen und teils massiven Verletzungen von Nathalie» bemerkt worden wären. Die Behauptungen des Mädchens seien ausserdem «zum Teil physikalisch unmöglich».
Das Umfeld von Nathalie gibt sich damit nicht zufrieden. Und auch hier kommt wieder ein Element der Satanic Panic zum Vorschein, demzufolge alle, die die Erzählungen anzweifeln, mit den Tätern unter einer Decke stecken und die einflussreichen Kinderschänder sich gegenseitig schützen.
«Pseudoermittlungen» und Morddrohungen
Die Staatsanwaltschaft, die Anwältin des Kindes, die Kesb: Sie alle sollen angeblich mit den Satanisten zusammenarbeiten. So stellt es die Mutter in einem Gespräch mit der «Solothurner Zeitung» wenige Tage nach der Einstellung des Verfahrens dar. Ein abgekartetes Spiel, mit «Pseudoermittlungen» der Staatsanwaltschaft als Höhepunkt.
Deswegen hat die Mutter von Nathalie Einsprache gegen den Einstellungsbefehl erhoben. Bald wird ein Gericht beurteilen müssen, ob die Staatsanwaltschaft zu Recht die Ermittlungen beendet hat. Die Einstellungsverfügung im Verfahren gegen den Vater Nathalies ist deswegen zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht rechtskräftig.
Neben der Anzeige gegen den Vater haben die Mutter und deren Umfeld zahlreiche Beschwerden und weitere Strafanzeigen eingereicht. Diese richten sich gegen die Kesb, die Staatsanwaltschaft, gegen Therapeutinnen und Politiker, die aus ihrer Sicht falsch handeln – also nicht die Verschwörungserzählung mittragen.
Die Verschwörungsgläubigen beschränken sich dabei nicht auf juristische Mittel gegen die Behörden. Auch Schmutzkampagnen und Morddrohungen gibt es im Zusammenhang mit dem Fall.
Der zweite Fall
So erschreckend der «Fall Nathalie» ist, bei dem offenbar einem Kind eingeredet wurde, schwer missbraucht und misshandelt worden zu sein, und ein Vater sich öffentlich mit den schlimmsten und abstrusesten Vorwürfen konfrontiert sah – es ist nicht der einzige Fall von Satanic Panic, in den Nathalies Mutter involviert ist. Der Fall von Noah (Name geändert), einem 5-jährigen Buben aus der Region Basel, eskaliert in einer mutmasslichen Entführung.
Es ist Herbst 2021, als Nathalies Mutter durch eine gemeinsame Bekannte aus dem Querdenkermilieu die Mutter von Noah kennen lernt. Noahs Mutter äussert den Verdacht, dass sein Vater ihn sexuell missbrauche. Etwa eine Woche später sitzen Nathalie und Noah zusammen mit ihren Müttern im Auto in Richtung Bodensee.
Zuvor hatte Nathalie den Vater von Noah anhand von Bildern als Satanisten identifiziert. In einem Restaurant am Bodensee treffen die vier einen pensionierten Kadermann der deutschen Armee, der Noah und seine Mutter nach Niederbayern mitnimmt, in die Nähe der tschechischen Grenze, rund 500 Kilometer von Basel entfernt. Dort soll der Bub vor dem angeblichen Missbrauchszirkel, zu dem neben seinem Vater und Nathalies Vater auch Anwälte, Polizisten und Richter gehören sollen, in Sicherheit gebracht werden.
Der Staatsfeind
Der selbst ernannte Retter ist in Deutschland kein Unbekannter. Recherchen der deutschen «Tageszeitung» haben ergeben, dass der Mann vom deutschen Verfassungsschutz beobachtet wird. Gemäss Recherchen der ARD kämpft er mit anderen Ex-Soldaten, Polizisten, Reichsbürgern und Querdenkern gegen die vermeintliche Corona-Diktatur.
Auch die Pädophilie beschäftigt den Pensionär sehr. Auf verschiedenen Demonstrationen gegen die Corona-Schutzmassnahmen und bei Aufmärschen von Reichsbürgern hält er Reden dazu und lässt sich dabei filmen. Seine Aussagen zeigen: Der Mann ist nicht nur in den «Fall Noah» direkt involviert, sondern auch in den «Fall Nathalie». Wie und warum er in Kontakt mit Nathalies Umfeld kam, muss offenbleiben.
«Die klären auf, mit Fotos, mit Videos, mit Nachtsichtgeräten.»
Er sammle Belege für die satanistischen Umtriebe im «Fall Nathalie». Diese würden in unterirdischen Gängen stattfinden, die mit Selbstschussanlagen gesichert seien. Er selbst verfüge über «ein paar Dutzend Leute», die mit ihm zusammen die Aufklärungsarbeit erledigen würden, die der Staat nicht mache, weil der von Satanisten unterwandert sei.
«Die klären auf, mit Fotos, mit Videos, mit Nachtsichtgeräten», sagt er. Einige Hunderttausend Euro stünden ihnen dafür zur Verfügung. Der Staat gehe mit Gewalt gegen ihn vor, er schwebe in Lebensgefahr, erzählt der Ex-Militär öffentlich.
Ein Drama in acht Aktenordnern
Es dauert über einen Monat, bis die Polizei nach einer internationalen Fahndung Noah und seine Mutter in Niederbayern findet. Der Bub lebt heute bei seinem Vater, seine Mutter sieht er regelmässig. Gegen sie wurde ein Strafverfahren wegen Verdachts auf Entzug von Minderjährigen und Entführung eröffnet. Ermittelt wird in diesem Zusammenhang auch gegen den deutschen Ex-Militär, die Mutter von Nathalie sowie die gemeinsame Bekannte von ihr und der Mutter von Noah. Für sie alle gilt die Unschuldsvermutung.
Die Kriminalpolizei ermittelte gegen den Vater von Noah. Nach der ersten Einvernahme beendeten die Beamten ihre Ermittlungen – weil es keinen Anhaltspunkt für Missbrauch gab.
Und Nathalie? Die heute 10-Jährige und ihre jüngere Halbschwester leben gemäss Aussagen mehrerer Quellen noch immer bei ihrer Mutter – obwohl die beiden Mädchen gemäss der Prozessbeiständin von Nathalie «im bestehenden Umfeld stark gefährdet» seien. Auch die Kesb spricht schon seit längerem von einer Kindeswohlgefährdung. Die Staatsanwaltschaft hat eine Gefährdungsmeldung eingereicht. Die Kesb gibt zu Einzelfällen keine Auskunft, wie die Behörde auf Anfrage mitteilt.
Der Konflikt zwischen den Eltern füllt bei der Kesb inzwischen acht Aktenordner. Seit Herbst 2019 hat der Vater seine Tochter nicht mehr gesehen. Eine Regelung des Besuchsrechts gibt es bis heute nicht.
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