Der erste Klimaschützer
Alexander von Humboldt hat unser Verständnis von der Welt revolutioniert. Ein Trip auf einen Vulkan in den Anden, wo er sich Erkenntnisse qualvoll erwanderte.

Es gibt nicht viele Berge, die so dekorativ in der Landschaft stehen wie der Antisana in Ecuador. Das 5704 Meter hohe schneebedeckte Vulkanmassiv duldet offenbar keine anderen Gipfel neben sich, das Staunen des Betrachters gehört ihm ganz alleine. Für Humboldt gab es keine überlegenen Nationen, kein Recht der Europäer, andere Kontinente auszubeuten, und keine Rechtfertigung, Menschen wie Tiere zu halten. Wie ein verlassenes Märchenschloss inmitten einer grünen Hochebene sieht der Antisana aus. Wobei es schon sein kann, dass auch die dünne Andenluft zu diesem erhabenen Eindruck beiträgt. Keine fünf Minuten geht man hier spazieren, ohne sich nach Sauerstoff zu sehnen. Einer der ersten Europäer, die diese Gegend bestaunten, notierte im März 1802 in sein Tagebuch: «Ein Respirationsgerät könnte dem Luftmangel abhelfen.»
Alexander von Humboldt wurde vor 250 Jahren geboren. Aus diesem Anlass beschäftigen sich viele intensiv wie selten zuvor mit dem preussischen Naturforscher, Entdecker und Universalgelehrten. Auf ihn gehen die Temperatur- und Drucklinien zurück, die wir heute aus dem Wetterbericht kennen. Er entwickelte auch eine wasserfeste Tinte, deren Tauglichkeit er bei einem Schiffbruch auf dem Orinoco-Strom in Venezuela gleich selbst nachweisen konnte und der wir Gegenwartsmenschen zu verdanken haben, dass seine südamerikanischen Reisetagebücher überhaupt noch lesbar sind. So etwas wie ein Respirationsgerät – heute würden wir Sauerstoffmaske sagen – gab es zu seinen Lebzeiten aber noch nicht. Es handelte sich offenbar um einen spontanen Einfall angesichts seiner Schnappatmung. «Selbst die Tiere haben hier Atembeschwerden», stellte er fest.

Für Humboldt waren solche äusseren Widrigkeiten allerdings kein Grund umzukehren, sondern ein Anlass, seine schweren Gerätschaften auszupacken und loszuforschen. Er hatte unter anderem ein Barometer, ein Thermometer und einen Sextanten auf die Antisana-Hochebene geschleppt, dazu ein Zyanometer, um die «Himmelsbläue» zu messen. Er füllte die eisige Luft in Fläschchen ab und stellte am lebenden Objekt fest, dass der Luftdruck so gering war, «dass die verwilderten Stiere, wenn man sie mit Hunden hetzt, Blut aus der Nase und aus dem Munde verlieren». Ähnlich erging es seinem Reisebegleiter Carlos Montúfar, obwohl nicht überliefert ist, dass die Hunde auch auf ihn gehetzt wurden. Besonders beeindruckt zeigte sich der Expeditionsleiter von den Kondoren, die damals wie heute ihre Kreise über dem Hochplateau drehen. Der Kondor, notierte Humboldt, «scheint sein Respirationsgeschäft mit gleicher Leichtigkeit bei 28 und 12 Zoll Luftdruck zu vollenden!»
Der wahre Entdecker Amerikas
Im Jahr 2019 fährt man von der ecuadorianischen Hauptstadt Quito mit dem Auto eine staubige Schotterpiste bis zum Fusse des Antisana hinauf, immer entlang an einem erstarrten Lavastrom. Humboldt und seine Begleiter legten den Weg vor 217 Jahren zu Fuss und zu Pferde zurück, wobei der Wind so stark war, dass man sich kaum im Sattel halten konnte. Ausserdem peitschen ihnen aus empirischer Sicht höchst interessante «Eisnadeln» ins Gesicht, vollkommen kristallisiert und deshalb «schneidender» als europäische Hagelkörner. Humboldts Forschungsinteresse galt nicht zuletzt seinen eigenen Wunden.

Auf dem dunkelgrünen Rasen vor dem weissen Berg steht eine Steinhütte mit Strohdach, so niedrig gedeckt, dass man nur gebückt eintreten kann. Den russigen Innenwänden ist anzusehen, dass es hier im Lauf der Jahrhunderte mehrfach gebrannt hat. Dutzende zum Teil höchst seltene Vogelarten haben sich unter dem Dachgiebel eingenistet. Für Menschen scheint dieses Häuschen unbewohnbar zu sein. Neben dem Eingang hängt eine Plakette, die im März 2002 angebracht wurde. Darauf steht: «Vor 200 Jahren, an einem Tag wie heute, besuchte der glorreiche Wissenschaftler und wahre Entdecker Amerikas Alexander von Humboldt diesen Ort, um den Antisana zu besteigen und seine Geheimnisse zu ergründen.»
In seinen Aufzeichnungen erklärte Humboldt diese Hütte zu der «ohne Zweifel am höchsten gelegenen Wohnung der Welt». Er verbrachte hier eine der schrecklichsten Nächte seiner Südamerikareise. Es gab nichts zu essen und keine Kerzen, alle trugen nasse Kleider. Der Wind «heulte wie auf offenem Meere». Humboldt teilte sich sein Nachtlager aus Stroh mit Montúfar. «Der arme Junge hatte Bauch- und Brustschmerzen, eine Darmkolik.» Am nächsten Morgen um acht Uhr brachen alle zusammen zum Gipfel auf. Der Antisana war der erste einer Reihe von ecuadorianischen Vulkanen, die Humboldt in Angriff nahm. Gegen alle Wahrscheinlichkeiten kam er jedes Mal lebendig wieder herab. «Das Wetter war nicht von der Art, um uns Hoffnungen zu machen», notierte er lakonisch. Und vermutlich hat man als Mensch des 21. Jahrhunderts keine Vorstellung mehr davon, wie kalt und eisig es damals im Steilhang gewesen sein musste, ohne Funktionskleidung.
Wühlen im Mikrokosmos
Der Antisana-Gletscher ist allein in den vergangenen 20 Jahren um 350 Meter geschmolzen. Am Ende des Schneefelds stand die Berggruppe plötzlich vor einer fast senkrechten Wand, die es unmöglich machte weiterzugehen. Bevor Humboldt umdrehte, stellte er noch einmal seine Geräte auf. Das Quecksilber im Barometer zeigte 14 Zoll, 11 Linien an, er befand sich folglich auf 5407 Metern über dem Meeresspiegel. Obwohl er den Gipfel des Antisana genauso wenig erreichte wie wenig später die des Cotopaxi und des Chimborazo, der beiden höchsten Berge Ecuadors, stieg Humboldt keineswegs frustriert hinab. Er war sich sicher, dass sich kein Mensch jemals so weit vom Mittelpunkt der Erde entfernt hatte.
Für den gebürtigen Berliner war das keine Mutprobe, sondern eine notwendige Tat, um die Welt zu verstehen, indem er sie «von einem höheren Standpunkt aus» betrachtete. Was er damals als Erster verstand, prägt unser Weltbild bis heute.
Humboldts 1808 erschienenes Buch «Ansichten der Natur» verdeutlichen seine Forschungs-, Denk- und Schreibweise. Über die Kondore am Antisana notierte er darin: «Es ist eine merkwürdige physiologische Erscheinung, dass derselbe Vogel, welcher stundenlang in so luftdünner Region im Kreise umherfliegt, sich bisweilen plötzlich zum Meeresufer herabsenkt und in einigen Stunden gleichsam alle Klimate durchfliegt.» Seine Erkenntnis, dass die Erde über alle Kontinente hinweg in verschiedene Klima- und Vegetationszonen unterteilt ist, formulierte er hier wie eine Selbstverständlichkeit, dabei war sie damals radikal neu. Es war eine Theorie, zu der er nicht am Schreibtisch oder im Labor gelangen konnte, wo so viel anderes wegweisendes Wissen der Menschheit entstand. Beim preussischen Forschungsreisenden Humboldt führte der beschwerliche Weg zur Erkenntnis.
Humboldt entwickelte unser Verständnis von Ökosystemen.
Am Fusse des Antisana wanderte er durch schwüle Täler, die er mit der «asiatischen Palmenwelt» verglich. Weiter oben sah er Eichen, Erlen und Berberitzen, die er aus europäischen Wäldern kannte. Als er die Baumgrenze passiert hatte, sammelte er Lupinen und Enziane und freute sich über den «schönsten Teppich aus Alpenpflanzen», bevor er noch weiter oben Flechten und Moose «wie aus Lappland» bestaunte. Humboldt wähnte sich in einem Mikrokosmos. In den Höhen der Andenvulkane ergab sich für ihn das Bild von einem «belebten Naturganzen», in dem alles seinen Platz und seine Bedeutung hat und alles mit allem zusammenhängt. Damit entwickelte er unser Verständnis von Ökosystemen, lange bevor der Begriff geprägt wurde. Die Historikerin Andrea Wulf nennt das in ihrem Standardwerk über Alexander von Humboldt «die Erfindung der Natur».

Eine Sache ist die Erkenntnis selbst, eine andere die Art, davon zu erzählen. Das hatte Humboldt bei seinem alten Freund Johann Wolfgang von Goethe in Jena und Weimar gelernt. Er verknüpfte seine Forschungsberichte deshalb bewusst mit persönlichen Empfindungen, mit Romantik, mit Dichtung und Kunst. In «Ansichten der Natur» setzte er sich damit auseinander: «Bei allem Reichtum und aller Biegsamkeit unserer vaterländischen Sprache ist es ein schwieriges Unternehmen, mit Worten zu bezeichnen, was eigentlich nur der nachahmenden Kunst des Malers darzustellen geziemt.» Noch in Ecuador machte er sich deshalb ans Werk und fertigte eine erste Skizze seines «Naturgemäldes» an. Es zeigt den Chimborazo im Querschnitt und elf Klimazonen, die darauf von unten nach oben angeordnet sind. Der Chimborazo steht dabei nicht nur beispielhaft für alle anderen hohen Berge der Erde, sondern auch für die Erde selbst. Der Maler sprach von einem «Mikrokosmos auf einem Blatte». Bis dahin hatte die Wissenschaft die Natur in immer kleinere Kategorien klassifiziert, bei Humboldt passte alles Wesentliche in eine Zeichnung: die Biologie als ein System, die Natur als ein Netz.
Was die Welt zusammenhält
Humboldt entdeckte Südamerika gewissermassen mit den Augen Goethes, und der liess sich vermutlich auch von Humboldts Reise zu seinem wichtigsten Werk inspirieren: «Ansichten der Natur» und der «Faust» erschienen im selben Jahr. Andrea Wulf weist zu Recht darauf hin, dass einer der berühmtesten Sätze, die Goethe seinem Faust in den Mund legt, ebenso gut von Humboldt stammen könnte: «Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält».
Ganz im Gegensatz zu Goethe hat es Humboldt nie in den Kanon der deutschen Klassiker geschafft. Er war ein Kind des 18. Jahrhunderts, das den Wissenschaftsbetrieb des 19. Jahrhunderts prägte und an der Schwelle zum 20. Jahrhundert nahezu in Vergessenheit geraten war.
In Lateinamerika war Alexander von Humboldt stets omnipräsent. Unzählige Strassen, Parks und Plätze sind dort nach ihm benannt, dazu ein Berg in Venezuela, ein Gebirge in Mexiko, ein Fluss in Brasilien, ein Geysir in Ecuador und der von ihm selbst entdeckte Humboldtstrom, der das Klima vor den Küsten von Chile und Peru bestimmt. Über weite Strecken des 19. Jahrhunderts war Humboldt ein internationaler Superstar: Er war mit dem US-Präsidenten Thomas Jefferson so eng befreundet wie mit dem südamerikanischen Befreiungshelden Simon Bolívar. In Berlin lebte er in den letzten Jahren bis zu seinem Tod im Mai 1859 weitgehend verarmt in einer Mietwohnung in der Oranienburger Strasse. Laut der Biografin Wulf besass er nicht mal die vollständige Ausgabe seiner Bücher, weil ihm dafür das Geld fehlte.
Für Humboldt gab es kein Recht der Europäer, andere Kontinente auszubeuten, und keine Rechtfertigung, Menschen wie Tiere zu halten.
In seinem Heimatland Deutschland hatte man ihn keine zwölf Jahre nach seinem Tod weitgehend aus der nationalen Erinnerung verbannt. Als zu franzosenfreundlich, zu kosmopolitisch für das Deutsche Reich von 1871 galt er. Vielleicht mag auch eine Rolle gespielt haben, dass Humboldt nie verheiratet war, noch scheint er jemals intime Beziehungen gehabt zu haben, weder zu Frauen noch zu Männern. Gerüchte, er könnte schwul sein, gab es dennoch. Der Dichter Theodor Fontane war nach der Lektüre einer zeitgenössischen Humboldt-Biografie verärgert, dass dessen «sexuellen Uncorrectheiten» verschwiegen wurden.
Dort, wo er im 20. Jahrhundert überhaupt eine Rolle spielte, hat man ihn so umgedeutet, wie man ihn brauchte. Die Nationalsozialisten versuchten, ihn als Welteroberer und Herrenmenschen zu instrumentalisieren. In der DDR wurde er zum Vordenker des Sozialismus stilisiert. In Westdeutschland haben ihn viele als abenteuerlustigen Kräutersammler verkannt, dort stand er im Schatten seines staatstragenden Bruders und Bildungsreformers Wilhelm. Als zu Zeiten der Kohl-Ära verstärkt nach unbelasteten deutschen Nationalhelden gesucht wurde, fand man unter anderem die Fussballweltmeister von 1954 – Alexander von Humboldt wurde übersehen.
Vielleicht wäre das anders ausgegangen, wenn Daniel Kehlmanns Bestseller «Die Vermessung der Welt» früher erschienen wäre. Darin wurde Humboldt unter Einsatz von reichlich Klamauk wieder popularisiert. Die gerade erst zum Leben erweckte seriöse Humboldt-Forschung blickt eher verächtlich auf den Kehlmann-Roman. Es geht hier schliesslich um einen Mann, der unser Verständnis von der Welt revolutionierte, indem er in den kleinsten Details die grossen Zusammenhänge erkannte, der Charles Darwin zu dessen bahnbrechender Evolutionstheorie inspirierte, der erkannte, dass Natur und Kultur untrennbar miteinander verbunden sind, und auf seiner Südamerikareise als einer der Ersten den menschengemachten Klimawandel beschrieb. Auf dieser Reise entwickelte er sich zu einem der damals schärfsten Kritiker der Sklaverei und des Kolonialismus. Für Humboldt gab es keine überlegenen Nationen, kein Recht der Europäer, andere Kontinente auszubeuten, und keine Rechtfertigung, Menschen wie Tiere zu halten.
Prototyp des guten Menschen
Alexander von Humboldt scheint geradezu der Prototyp des guten Menschen zu sein, ein Kosmopolit, ein ökologischer Vordenker, ein begnadeter Dichter. Und die Antwort auf die Frage, warum das eine breite Öffentlichkeit endlich wahrnimmt, findet sich wohl in der gegenwärtigen Weltnachrichtenlage.
In Zeiten, in denen weder der Multilateralismus noch der Multikulturalismus mehr selbstverständlich erscheint, steht der radikale Multilateralist und Multikulturalist Alexander von Humboldt plötzlich wie ein Prophet da. Und wenn selbst der Präsident der Vereinigten Staaten den menschengemachten Klimawandel leugnet, obwohl wir längst auf einen Klimanotstand zusteuern, dann wirken die zwei Jahrhunderte alten Schriften Humboldts auf alarmierende Weise aktuell.
Er hat keinen Kontinent und kein physikalisches Gesetz entdeckt so wie Christoph Kolumbus oder Isaac Newton. Sein Verdienst beruht auf seiner Sicht auf die Welt, die er sich am Orinoco mühsam erpaddelte und am Antisana qualvoll erwanderte. Humboldt hat in Südamerika beschrieben, was diese Welt im Innersten zusammenhält. Wer ihn heute liest, versteht, wie schnell sie auseinanderfallen kann.
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