Der Absturz eines Thronanwärters
Dominique Strauss-Kahn galt als Lichtfigur der Linken für Frankreichs Präsidentschaftswahl 2012. Nun ist plötzlich alles ganz anders. Von Oliver Meiler
Nur die Handschellen ersparten sie ihm. Als die New Yorker Polizei Dominique Strauss-Kahn in der Ersten Klasse von Flug AF 23 nach Paris stellte, nur 10 Minuten vor Take-off, sass der Franzose alleine im Abteil. Widerstand leistete er nicht, protokollierten die Beamten danach, als hätten sie welchen erwartet. Und wenn nun auch alle Wortmeldungen der Politiker mit der obligaten Unschuldsvermutung beginnen, die Justiz erst einmal die Fakten prüfen muss und die Anklage eines 32-jährigen Zimmermädchens dem Dementi des Direktors des Internationalen Währungsfonds IWF gegenüberstehen: Die politische Karriere von DSK, wie ihn die Franzosen mit ihrer Schwäche für Abkürzungen nennen, ist im Abteil der Ersten Klasse von AF 23 am New Yorker Flughafen John F. Kennedy wohl jäh zu Ende gegangen. Spektakulär und dramatisch. Der Favorit aus Washington Es war eine Karriere, deren Höhenpunkt erst noch bevorstand: der Traum so vieler französischer Politiker, der Gipfel aller Ambitionen, der Thron der Republik. Der Wirtschaftsprofessor und ehemalige Finanzminister, 62, aus dem Pariser Nobelvorort Neuilly-sur-Seine, hätte Präsident werden wollen. In einigen Wochen hätte dieser langjährige Exponent des Parti Socialiste seine Teilnahme an den sozialistischen Primärwahlen kundgetan. Daran gab es keine Zweifel mehr, obwohl ihm seine Funktion beim IWF jegliche innenpolitische Äusserung verbat. Und seine Chancen auf das Präsidentenamt standen gut, sehr gut gar. Man kann sagen, dass die Sozialisten seit 1981, als François Mitterrand gewann, nie mehr so gute Chancen hatten als mit DSK. Das amerikanische Magazin «Newsweek» titelte ihr Porträt von Strauss-Kahn so: «The Top Guy». Seine pragmatisch sozialdemokratische und wirtschaftsliberale Ader gefiel auch im rechten Lager der französischen Politik, jenseits der Grenzen des sozialistischen Wählerreservoirs also. Und offenbar war dieser Zuspruch aus dem gegnerischen Lager grösser als die Gegnerschaft auf dem linken Flügel des eigenen Lagers. Die linke Zeitung «Libération» fragte: «Ist DSK ein Linker?» – und das bürgerliche Heft «L'Express» schrieb über sein Cover: «Ist DSK ein Rechter?» Dieser Balanceakt zwischen den ideologischen Welten war seine Stärke. Er trug ihm die Favoritenrolle ein. Sarkozy wurde Herausforderer Alle Demoskopen sagten voraus, Strauss-Kahn würde gegen Nicolas Sarkozy klar gewinnen. Seit Monaten schon, was die Entourage des Präsidenten zunehmend nervös machte. Die gestrigen Sonntagszeitungen, die zu spät von der Verhaftung erfahren hatten, um ihre Frontseiten umstellen zu können, lieferten die jüngsten Zahlen dazu. DSK lag noch immer klar vorne. Entrückt in Washington, profitierte er zuletzt auch davon, dass er sich innenpolitisch nicht exponieren musste, keine unangenehmen Fragen zur Atomkraft und zur Immigration beantworten zu müssen. Und so war Sarkozy in einer paradoxen Umkehrung der Rollen plötzlich der Herausforderer. Mit DSK im Rennen, so die Prognose, hätte es Sarkozy nicht einmal in die zweite Wahlrunde geschafft. Das wäre eine Premiere gewesen in der Geschichte der V. Republik – und eine bittere Schmach für Sarkozy. Geschlagen von einem Mann, der sich weltläufig gab, der für seine Leistung an der Spitze des IWF während der Weltwirtschaftskrise internationales Lob geerntet hatte, der die Mächtigen dieser Erde duzte. Geschlagen aber auch von Marine Le Pen, der Chefin des rechtsextremen Front National. Nun ist alles anders. Links wie rechts. Von «Schock», «Donnerschlag» und «Erdbeben» konnte man am Sonntag hören. Manche linke Politiker äusserten den Verdacht, dass DSK womöglich auch das Opfer einer perfiden Falle geworden sein könnte – eines «coup fourré», einer politischen Verschwörung: Dass das Zimmermädchen also in die Hotelsuite geschickt wurde, um den Gast zu verführen. Nicht zum ersten Mal DSK geht der Ruf eines Schürzenjägers voraus. Spätestens seit einem Vorfall vor drei Jahren gilt diese Schwäche als veritable Achillesferse. Damals flog auf, dass DSK bei seiner Teilnahme am World Economic Forum in Davos eine Affäre mit einer jungen ungarischen IWF-Ökonomin hatte. Sittenwidrig war daran nichts. DSK konnte auch kein Amtsmissbrauch nachgewiesen werden. Doch die amouröse Liaison stand im Kontrast zum ethischen Kodex des IWF. Die Organisation hätte ihren Chef beinahe entlassen, akzeptierte dann aber dessen Entschuldigung. Auch seine Frau, die frühere Fernsehtalkmasterin Anne Sinclair, verzieh dem Gemahl das «Abenteuer eines Abends»: «Wir lieben uns wie am ersten Tag», schrieb sie in ihren Blog. Der Ruf des Frauenhelden blieb an ihm hängen. Indizien für ein Komplott gibt es zunächst keine. Wer hätte ihm eine Falle stellen sollen? Seine rechten Rivalen? Oder seine internen linken? Die Frage scheint denn auch bereits sekundär, politisch zumindest. DSK scheidet aus. Das Verfahren wird ihn ganz absorbieren. Der IWF muss wahrscheinlich bald das Vakuum in der Führung füllen, um der Solvenzkrisen vieler angeschlagener Länder mit Bankrottrisiko gerecht werden zu können. Und Frankreich verliert die Aussicht auf ein spannendes Duell: DSK vs. Sarko. Darauf hatten sich die Medien gefreut.Ein Showdown wäre das gewesen, ein Hahnenkampf sondergleichen – nicht nur politisch. Die beiden Männer neigen gleichermassen dazu, sich aufzuplustern. Beide sind angezogen von Glamour, Geld und Luxus. Beide haben wohlhabende Frauen geheiratet. DSKs Hang zum Teuren und Schicken trug ihm den Übernamen eines «Kaviar-Linken» ein, den er erst kürzlich bestärkte, als er bei einem Besuch in Paris in den 100 000 Euro teuren Porsche eines PR-Beraters stieg und dabei fotografiert wurde. Das Foto schmälerte seine Gunst im Volk um einige Prozentpunkte, bedrohte ihn aber nicht. Das abgesagte Duell Nun ist also alles anders. Gut möglich, dass sich die bürgerliche Rechte, die sich unter dem Eindruck der düsteren Wahlprognosen in Grabenkämpfen und Abspaltungen aufreibt, wieder zusammenrauft und um Sarkozy schart. Dessen Chancen verbessern sich nach einem Ausscheiden DSKs schlagartig. Die Linke dagegen verliert ihren aussichtsreichsten Mann und droht ihrerseits in neue Grabenkämpfe zu verfallen. Bereits buhlt ein halbes Dutzend Sozialisten mehr oder weniger offen um die Rolle des Spitzenkandidaten: u. a. François Hollande und Ségolène Royal. Nun dürften noch einige dazukommen, die sich von Strauss-Kahn vertreten fühlten. Vielleicht tritt auch Parteichefin Martine Aubry bei den Primärwahlen an. Zu den Profiteuren gehört Marine Le Pen. Ob sie zur Moralistin taugt, darf zwar bezweifelt werden. Doch ihrem Angriff gegen das Establishment, gegen die Mächtigen und Reichen, mit dem sie die französischen Massen zu mobilisieren sucht, kommt die Festnahme in der Ersten Klasse von Flug AF 23 natürlich zupass. Ganz egal, ob diese dramatische, spektakuläre Affäre juristisch relevant ist oder nicht. Polizeibeamte betreten das Hotel. Foto: John Minchillo (Keystone) Dominique Strauss-Kahn vergangenen Donnerstag nach einer Sitzung in Washington. Foto: Olivier Douliery (PA, Keystone)
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