Fünfzig Jahre Frauenstimmrecht«Den jungen Männern sage ich: Habt keine Angst vor selbstbewussten Frauen!»
Hanna Sahlfeld-Singer gehörte 1971 zu den ersten elf Frauen, die in den Nationalrat gewählt wurden. Fünfzig Jahre später, an der offiziellen Jubiläumsfeier, war sie der gar nicht so heimliche Star.

Die Frauen waren schon immer da, aber sie waren ziemlich gut versteckt. Hinter weissen Wolken, so wie die barbusige Friedensgöttin, die der Kunstmaler Charles Giron ins grosse Wandgemälde im Nationalratssaal geschmuggelt hatte (zum Missfallen der damaligen Parlamentarier). Oder gleich oberhalb des Wandgemäldes, wo eine Frau verschiedenen Kindern die Geschichte von Wilhelm Tell erzählt (muss man wissen, sonst kommt man nicht drauf).
Nur unten im Saal, da waren Frauen für mehr als hundert Jahre nicht vorgesehen. Höchstens als zu diskutierendes Objekt. Wie beispielsweise im Jahre 1945, als der Männer-Nationalrat die Einführung des Frauenstimmrechts diskutierte und Karl Wick von den Katholisch-Konservativen vor der «Verabsolutierung» der Demokratie warnte: «Eine politische Gleichschaltung von Mann und Frau in Form einer alles nivellierenden Demokratie wäre eine innere Verarmung unseres Staatslebens.»
Eine Ironie der direkten Demokratie
Viele Männer redeten so. Viele Frauen auch. Die Einführung des Stimmrechts für Mann und Frau: ein wahnsinniger, ein ewiger Knorz. Schuld daran waren, ironischerweise, die ausgebauten Volksrechte im Bundesstaat, wie Justizministerin Karin Keller-Sutter (FDP) an der offiziellen Feier zur Einführung des Frauenstimmrechts vor fünfzig Jahren sagte. «In keinem anderen Land, ausser in Liechtenstein, lag der Entscheid über dieses fundamentale Bürgerrecht in der Hand jedes stimmberechtigten Mannes.» Der 7. Februar 1971, der Tag der Abstimmung (die Feier wurde wegen der Pandemie in den Herbst verschoben), sei ein Sieg der Frauen gewesen, ein Sieg der Demokratie. «Es war die Geburtsstunde jener Demokratie, auf die wir heute stolz sind. Einer ganzen Demokratie.»
Ein halbes Jahr nach dem Ja der Männer an der Urne wurden die ersten Frauen nach Bern gewählt. 11 Nationalrätinnen und eine Ständerätin. «Die Männer in St. Gallen hatten ja eigentlich Nein gesagt zum Frauenstimmrecht», erzählte Hanna Sahlfeld-Singer, eine dieser ersten Nationalrätinnen im Saal, «aber es sah einfach besser aus, wenn man für die Wahlen auch ein paar Frauen aufstellte.»
Sahlfeld-Singer, eine studierte Theologin und reformierte Pfarrerin, war eine dieser Frauen. Sie hatte im Jahr vor der Abstimmung während einer 1.-August-Rede für das Frauenstimmrecht geworben – was ihr am Schluss einen Platz auf der Liste der SP St. Gallen eintrug.
Überall Schwierigkeiten
Und der Anfang einer ziemlich mühseligen Zeit für sie war, wie die 77-Jährige freimütig erzählte. Mit dem Einzug ins Parlament musste sie wegen des kirchlichen Ausnahmeartikels ihren Beruf als Pfarrerin aufgeben. Ihr Mann, ebenfalls ein Pfarrer, wurde wegen des politischen Engagements seiner Frau sehr kritisch beurteilt. Als Sahlfeld-Singer dann noch, als erste Frau im Parlament überhaupt, ihr zweites Kind erwartete, da waren die Meinungen gemacht. «Ein Mann, der seiner Frau den Rücken frei hält und Windeln wechseln kann. Eine junge Mutter, die ihren Kindern so viel zumutet – das kann nicht recht sein!»

Sie versuchte, sich davon nicht beirren zu lassen. Schnell hätten sie zur Flasche und zum Milchpulver gegriffen, oft sei sie mit ihren Kindern damals im Zug unterwegs gewesen. «Und trotzdem ist etwas aus ihnen geworden!» Im Parlament setzte sich Sahlfeld-Singer für verschiedenste Dinge ein. Für Temporeduktionen in Quartierstrassen («Da bin ich glänzend untergegangen!»), für mehr Mieterschutz oder die Einführung einer Lebensmitteldeklaration.
1975 wurde Sahlfeld-Singer glanzvoll wiedergewählt. Ihr Mann hatte zu diesem Zeitpunkt eine neue Stelle angetreten, 600 Kilometer von St. Gallen entfernt, in Deutschland. In der Schweiz hatte er keine Anstellung mehr gefunden. Nach der ersten Session der neuen Legislatur trat Sahlfeld-Singer dann zurück. «Irgendwann hatte ich keine Kraft mehr», erzählte sie im Interview während der Feier und brach danach in Tränen aus. «Es kommt alles wieder hoch.»
Doch verbittert sei sie nicht, dazu gebe es keinen Grund, sie sei stolz. In einem Buch über sie habe es einmal geheissen: Sie sei zu früh am richtigen Ort gewesen. «Mehr kann ich dazu auch nicht sagen.»
Oder doch. Einen Tipp hatte eine der ersten Nationalrätinnen noch. An die Frauen: «Eure Rechte sind nicht vom Himmel gefallen. Nutzt sie! Es braucht euch überall!» Und einen an die Männer: «Habt keine Angst vor selbstbewussten Frauen. Seid gleichberechtigte Partner! Dann kann es gut für alle werden.»
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