«Das Vergnügen gehört zum Christentum»
Der Erlenbacher Mike Gray war ein Jahr lang Vikar in der Kirche Meilen. Morgen Sonntag wird er dort zum reformierten Pfarrer geweiht.
Wie kommt ein junger Mann wie Sie dazu, Pfarrer zu werden?
Mein Vater war Baptisten-Pfarrer in Ungarn, um die Kommunisten zu bekehren. Wahrscheinlich war ihm das zu einfach, also ging er nach Sizilien, um die Katholiken zu bekehren. Ich träumte als Teenager davon, Philosophie und Literatur zu studieren, aber mein Vater war dagegen. So komme man auf die schiefe Bahn, sagte er. Ich wurde also mit 18 Jahren in eine strenge Bibelschule geschickt und studierte danach Theologie. Gab es während der Ausbildung in Meilen Dinge, die Sie irritierten?
Ja, es ist fast ironisch: Ich komme aus einem freikirchlichen Hintergrund, der recht konservativ ist punkto Glaube, im Stil und in der Sprache aber sehr frei und experimentierfreudig. Bei der Landeskirche ist es genau umgekehrt. Ich spiele zum Beispiel gerne elektrische Bassgitarre, aber allein schon die Akustik einer Kirche macht das schwierig. Der schöne, alte Raum ist für einen traditionellen Gottesdienst entworfen worden. Trotzdem glaube ich, dass man in der Kirche eine zeitgemässe Sprache verwenden sollte. Sie brechen mit der Tradition?
Nein, ich schätze auch die alten liturgischen Formen. Ich musste allerdings hart daran arbeiten, so sprechen zu lernen, dass man mich in der grossen Halle überhaupt versteht. Nach einer der ersten Predigten kam eine alte Frau zu mir und sagte: «Schön händ Si gredt, aber ich han nüüt verstande.» Alte Frauen sind vermutlich Ihr treustes Publikum. Hat Ihr Beruf überhaupt noch eine Zukunft?
Wir sind keine museumsreife Branche. Auch heute stellen sich die Menschen Fragen, die über Alltagsprobleme hinausgehen: Warum gibt es mich? Braucht es mich überhaupt? Ich treffe viele junge Leute, die bei einer Geburt oder einer Hochzeit merken, dass solche Fragen wichtig sind, und die dann die Landeskirche als zuverlässigen Gesprächspartner entdecken. Das klingt nach Supermarkt-Mentalität: Man holt sich an Spiritualität, was man gerade so braucht.
Ich sehe das anders. Solange die Kirche im Dorf bleibt, ist ein Ansprechpartner da, der helfen kann, Gott und Spiritualität auf eine vertretbare Art zu suchen. Man geht ja auch nicht jeden Tag in die Berge, aber wenn man geht, ist man froh über einen kundigen Bergführer. Können Sie als Pfarrer in der Kirche eine bessere Lebenshilfe bieten als populärpsychologische Ratgeber in Heftchen und am TV?
Ich bin definitiv nicht in der Lage, bei jeder Predigt gleich präsent und inspirierend zu sein. Aber im Unterschied zum Mann im Fernsehen bin ich als Ortspfarrer ein Mensch, mit dem man nach dem Gottesdienst ins Gespräch kommen kann. Einer, der das vorzuleben versucht, was er predigt. Was für ein Leben predigen Sie?
Die christliche Moral hat zwei Grundaussagen: Liebe Gott; liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Die erste bedeutet: Es gibt etwas, das wichtiger ist als alles, was ich in meiner Karriere erreichen kann. Die zweite bedeutet: Mein eigener Wohlstand ist nicht das Wichtigste. Ich lebe ein besseres Le- ben, wenn ich um das Wohl meiner Mitmenschen besorgt bin, statt nur zu schauen, ob meine Aktienkurse steigen. Glauben Sie wirklich, dass Sie mit solchen Botschaften durchdringen zu Mitgliedern einer Gesellschaft, die vor allem individuellen Erfolg und Lustbefriedigung zelebriert?
Ich bin gar nicht gegen das Vergnügen, es gehört zum Leben. Das Christentum sollte auf keinen Fall lebensfeindlich sein. Es heisst ja‹. . . wie dich selbst›, das Ziel ist also nicht eine asketische Haltung. Wer selbstlos zu sein glaubt, betrügt sich am Ende selbst, denn unser eigenes Wohl ist uns immer wichtig. Es geht vielmehr darum, ein gutes Gleichgewicht zu finden. Die christliche Moral beruft sich auf Gott und die Bibel und macht sich so immun gegen jede Kritik. Darf man über Moral und Wertvorstellungen nicht diskutieren?
Doch, das müssen wir sogar. Die traditionellen Wertvorstellungen sind eine wichtige Erbschaft, gleichzeitig aber auch eine verhängnisvolle, manchmal sogar eine vergiftete. Ein Protestant muss nicht einfach die Bibel auswendig kennen, er muss mit ihr ringen und sich fragen: Was bedeutet das jetzt für mich? Man kann eine zweitausendjährige Schrift nicht eins zu eins auf heutige Probleme anwenden. Die katholische Kirche unter Papst Benedikt sieht das anders. Sie versteht sich als moralische Instanz, die von modernen Strömungen unberührt bleibt. Sind die Katholiken damit nicht konsequenter als jene Reformierten, welche die Kirche zum Debattierklub machen und so die eigene Religion untergraben?
Wenn die Kirche kein Profil mehr hat, hat sie tatsächlich ein Problem. Ein Profil kann man sich geben, indem man fixe Antworten auf sämtliche Fragen bereithält. Ich aber glaube, dass zum Profil unserer Kirche ganz zuvorderst die Ehrlichkeit gehört. Wenn es Fragen gibt, die nicht einfach zu beantworten sind und über die man leider Gottes differenziert nachdenken muss, dann ist es unehrlich, pfannenfertige Lösungen zu präsentieren. Wäre das Ihr Credo als Pfarrer?
Ja, ich finde es als Prediger extrem wichtig, dass ich als Mensch unter meinesgleichen dastehe und mit denselben Fragen ringe, die alle beschäftigen: den Fragen nach Gott und der eigenen Existenz. Selbst wenn mich diese Fragen in meinem Glauben verunsichern.
Der gebürtige US-Amerikaner Mike Gray fühlt sich am Zürichsee längst zu Hause.
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