Das tägliche Sterben in London
Die britische Hauptstadt verzeichnet erstmals mehr Morde als New York – in nur drei Jahren ist die Zahl um ein Drittel gestiegen.

In London und New York leben praktisch gleich viele Menschen, je knapp neun Millionen. Den schlechteren Ruf, was Verbrechen anbelangt, hat aber seit jeher die US-Metropole. Anfang der 90er-Jahre, auf dem Höhepunkt der Gewalt, gab es in New York 30 Morde pro 100'000 Einwohner. Die Stadt musste handeln und tat das auch: Unter der Führung des ehemaligen Bürgermeisters Rudolph Giuliani konnte die Mordrate deutlich gesenkt werden. Im vergangenen Jahr kamen auf 100'000 Personen noch 3,3 Tötungsdelikte – 87 Prozent weniger als 1990.
Auch in London, das insgesamt weniger Tötungsdelikte verzeichnete, ging die Mordrate seit der Jahrtausendwende laufend zurück. Doch im Gegensatz zu New York nimmt die Gewalt seit 2014 wieder zu. In den vergangenen drei Jahren ist die Zahl der Morde in der britischen Hauptstadt um gut 36 Prozent gestiegen – nicht eingerechnet die Toten bei Terroranschlägen.
Und jetzt hat London New York bei der Zahl der Morde zum ersten Mal überhaupt übertroffen: Im Februar wurden in der britischen Hauptstadt 15 Menschen getötet, eine Person mehr als in der US-Metropole. Im März gab es sogar 22 Mordopfer, ebenfalls eines mehr als in New York. Dies geht aus neuesten Polizeistatistiken beider Städte hervor.
Fast täglich wird in London momentan ein Mord begangen. Das jüngste Opfer: eine 17-Jährige, die in der Nacht auf heute in Tottenham im Norden der Stadt erschossen wurde. In der Nähe fand die Polizei einen weiteren Jugendlichen mit Schussverletzungen auf, ein anderer erlitt Stichverletzungen. Die Fälle sollen nichts miteinander zu tun haben, zeigen aber symptomatisch, wie sich die Gewaltspirale in London immer schneller dreht.

Von den 46 Mordfällen bis Ende März dieses Jahres sind allein 31 auf Angriffe mit Stichwaffen zurückzuführen. Jeden dritten Tag gebe es eine tödliche Messerattacke, rechnet der «Independent» vor. Laut der Londoner Polizei sind dafür vor allem Einzeltäter und nicht so sehr die organisierte Kriminalität verantwortlich. Verschiedene Berichte zeigen jedoch auf, dass in der Stadt immer mehr sogenannte «postcode wars» ausgetragen werden, also Kämpfe zwischen rivalisierenden Gangs aus verschiedenen Quartieren.
Die Täter seien zunehmend minderjährig, immer mehr Jugendliche hätten ein Messer bei sich, sagt denn auch die Polizei. Im vergangenen Jahr hielt sie in einem Bericht fest, dass die Zahl der Kinder, die in Londoner Schulen Stichwaffen tragen, zwischen 2014 und 2016 um fast 50 Prozent gestiegen ist. Gleichzeitig nahmen die mit Messern verübten Straftaten in Schulhäusern um 26 Prozent zu.
London ist mit dieser Gewalt im Zentrum eines Problems, welches das ganze Land erfasst hat. 39 Kinder und Teenager wurden laut dem «Guardian» 2017 bei Messerattacken getötet – allein die Hälfte davon in der Hauptstadt. Dass es nicht noch mehr waren, ist angesichts der starken Zunahme von Straftaten mit Stichwaffen beinahe ein Wunder.
Über 37'000 Vorfälle mit Messern gab es 2017 in England und Wales, 21 Prozent mehr als noch im Vorjahr und so viele wie seit 2011 nicht mehr. Von landesweit 44 Polizeitruppen registrierten 38 einen Anstieg solcher Gewalt. Am stärksten nahm sie im Grossraum London zu.
Londons Polizeichefin Cressida Dick hatte am Samstag in der Zeitung «The Times» den sozialen Medien eine Mitschuld gegeben. Sie verharmlosten Gewalt bei Jugendlichen, sagte sie. Zudem hätten sie definitiv Einfluss darauf, dass leichte Wut mittlerweile sehr schnell in Aggression umschlage. Als Problem betrachtet Dick auch die Verherrlichung von Gewalt durch Gangs, die in den sozialen Medien mit entsprechenden Fotos und Videos prahlen.
Die Polizeichefin versprach die Bildung einer neuen, 100 Personen starken Taskforce zur Gewaltbekämpfung. Zudem sollen in Zukunft wieder mehr Durchsuchungen und Kontrollen durchgeführt werden. «Wir werden stärker auf der Strasse vertreten sein», versprach Dick.
«Wir können von New York lernen, wie man die Gewalt reduziert.»
Politiker und Experten zweifeln allerdings daran, dass die Gewaltspirale allein durch ein stärkeres Durchgreifen der Polizei gestoppt werden kann. London könne vielmehr von New York lernen, sagte die Parlamentarierin Sarah Jones gegenüber BBC. Die US-Metropole habe den Ansatz der öffentlichen Gesundheit verfolgt. «Gewaltverbrechen verhalten sich wie eine Epidemie. Man muss den Ursprung erkennen und die Kinder dagegen impfen», so Jones. Impfen bedeute einen grossen Aufwand von Jugendbetreuern, den Besuch von Schulen, das Verändern der sozialen Normen und die Erziehung der Kinder im Umgang mit Gewalt.
Ähnlich äusserte sich Leroy Logan, der ehemalige Chef der Hauptstadtpolizei. «Londons Gewalt ist zu einem Virus geworden, das sich in so viele verschiedene Bereiche der Gesellschaft ausgebreitet hat», sagt er zu BBC. «Ich verstehe nicht, wie die Dinge so aus dem Ruder laufen konnten.» Man müsse das Problem ganzheitlich anpacken. «Die Polizei kann es mit Kontrollen und Verhaftungen alleine nicht lösen. Sie muss mit den örtlichen Communitys zusammenarbeiten.»
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