Das Sozialhilfe-Risiko steigt schon mit 45
Neuste Zahlen aus 14 Städten zeigen, dass das gefährlichste Alter tiefer ist als angenommen. Bei Jungen sinken die Quoten.

Vor wenigen Jahren war das Problem noch umgekehrt: Die Sozialhilfequote stieg bei den unter 25-Jährigen stark an, Grund dafür waren strukturelle Veränderungen in der Wirtschaft. Weniger Arbeitsplätze im Industriesektor, Aufgaben für Niedrigqualifizierte fielen weg. Zudem griffen die Sparmassnahmen bei der Invalidenversicherung.
Mittlerweile sinken die Sozialhilfequoten bei den Jüngeren – dafür steigen sie bei den Älteren an, zum Teil drastisch. Das zeigen die neuen Zahlen der Städteinitiative Sozialhilfe, ein Verbund aus mittlerweile 14 Schweizer Städten.
Bei der Gruppe der über 56-Jährigen ist die Quote der Sozialhilfeempfänger seit 2009 von 3,3 auf 4,8 Prozent gestiegen. Die Politik hat das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit im fortgeschrittenen Alter mittlerweile erkannt, Massnahmen wie eine Überbrückungsrente für 60-jährige Ausgesteuerte sind angedacht.
Doch nun zeigen die neusten Sozialhilfezahlen, die vom Bundesamt für Statistik ausgewertet wurden: Das Problem fängt schon früher an. Auch bei den über 46-Jährigen steigt die Quote seit zehn Jahren stark an. Sie beträgt mittlerweile 5,7 Prozent, 2009 waren es noch 4,9 Prozent. Im mittleren Alterssegment stagniert sie, bei den unter 35-Jährigen ist sie leicht rückläufig. Heute gilt: je älter, desto grösser das Risiko, in der Sozialhilfe zu landen.
Arbeitgeber sind gefordert
Dabei seien die älteren Sozialhilfeempfänger im Schnitt sogar besser ausgebildet als die jüngeren, sagt Felix Wolffers, Sozialamtleiter der Stadt Bern. Das Problem ortet er unter anderem bei den Arbeitgebern, die sich zwar zum Engagement für die Integration älterer Arbeitnehmern bekennen würden, dies aber nicht konsequent umsetzten. «Manche Firmen stellen prinzipiell keine über 50-Jährigen an», sagt Wolffers, der bis Frühling 2019 Co-Präsident der schweizerischen Sozialhilfekonferenz war. Als weiteren wichtigen Faktor nennt er die Rentenpolitik der Invalidenversicherung.
Der Bericht der Städteinitiative Sozialhilfe zeigt: Die IV-Neurenten sind bei den älteren Personen seit 2009 auf weniger als die Hälfte gesunken. Bei den jüngeren blieben sie auf ungefähr gleichem Niveau.
Nicolas Galladé, Sozialvorsteher in Winterthur, hofft auf die Politik. Die Überbrückungsrenten für 60-jährige Langzeitarbeitslose bringt der Bundesrat demnächst ins Parlament. Weiter wird 2020 die Botschaft zum Kredit für Bildung, Forschung und Innovation erwartet. Ein Teil davon soll für die Förderung der Grundkompetenzen und die berufliche Bildung Sozialhilfebeziehender gesprochen werden, so verlangt es eine Motion von FDP-Nationalrat Kurt Fluri. In der Regel seien Sozialhilfebeziehende durchaus motiviert, eine Ausbildung zu absolvieren, sagt Nicolas Galladé.
Zu krank für die Arbeit, zu gesund für die Rente
Auf die Frage nach den Gründen für den starken Anstieg der Sozialhilfequote bei Älteren antwortet Ruedi Illes, Leiter der Sozialhilfe Basel-Stadt: «Jeder Fall ist wieder anders gelagert.» Doch es gebe typische Merkmale, zum Beispiel wenig oder nicht zielgerechte Bildung. Letzteres könne die Ausbildung zu einem veralteten Beruf wie Schriftsetzer sein; Ersteres, wenn jemand gar keine Lehre absolviert hat. Dies im fortgeschrittenen Alter nachzuholen, sei oft schwierig, sagt Illes. Zum einen aus finanziellen Gründen. Leute mit familiären Unterhaltspflichten können sich eine Lehre nicht leisten. Doch selbst wenn das Geld vorhanden wäre: Es mangle vielen auch an der Motivation, sagt Illes. Mit über 40 Jahren nochmals die Schulbank zu drücken, das brauche viel Energie.
Das andere Merkmal sind gesundheitliche Probleme. Weil weniger IV-Renten gesprochen werden, beziehen viele Sozialhilfe, die früher eine Rente bezogen haben. Sie gelten als «zu gesund für eine IV-Rente und zu krank für den Arbeitsmarkt». Fatalerweise verschärfen sich die gesundheitlichen Probleme bei andauernder Sozialhilfeabhängigkeit und damit einhergehender Isolation.
Weitere Erkenntnisse aus dem Bericht der Städteinitiative, die anlässlich ihres 20-jährigen Bestehens einen Langzeitvergleich erstellt hat, sind: Die Sozialhilfequoten sind in acht Städten stabil, in sechs Städten sinken sie. Die Zahl der Neu-Bezüger sinkt, doch die durchschnittliche Bezugsdauer steigt. Sie beträgt heute drei Jahre und 10 Monate. Und die Kluft zwischen mehr und weniger Gebildeten geht auf. Die Leute sind im Schnitt immer besser ausgebildet, doch die Chancen von Niedrigqualifizierten auf eine Arbeit sinken.
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