Nachruf auf Helen MeierIhr Auge fürs Detail hatte etwas Verstörendes
Mit 55 Jahren erst tauchte sie auf der Bühne des Literaturbetriebs auf. Mit 90 publizierte sie ihr Frühwerk. Jetzt ist Helen Meier, eine mutige, eigenwillige und kraftvolle Schweizer Stimme verstummt.

Am Samstagmorgen ist Helen Meier mit 92 Jahren gestorben. Die Figuren der St. Galler Autorin leben weiter. Intensiv, in leuchtenden Farben; sie sind immer in Bewegung. Ob sie in der Welt herumreisen oder ihr Dorf kaum je verlassen, spielt dabei keine Rolle. Der Zorn über Nichtgelebtes treibt sie um; alle sehnen sie sich nach Liebe, manche auch nach Freiheit.
Doch gerade ihr Hang zur erotischen Euphorie lässt Meiers Figuren oft in Beziehungskisten landen, aus denen sie gewaltsam wieder ausbrechen müssen. Davon kündet die hellwache, präzise und sinnliche Sprache dieser Autorin, die, auch wenn es in den letzten Jahren ihres Lebens ruhiger um sie geworden ist, zu den Grossen der Schweizer Gegenwartsliteratur gehört.
Erforscherin der Liebe zwischen Frauen
Helen Meier war bereits 55 Jahre alt, als sie beim Bachmannpreis in Klagenfurt die Bühne des Literaturbetriebs betrat. Eine Frau mit Lebenserfahrung, die beim Schweizerischen Roten Kreuz gearbeitet hatte und Sonderschule unterrichtete in Heiden. Die Jury, der unter anderen Marcel Reich-Ranicki, Walter Jens und, als Schweizer Kritikerin, Klara Obermüller angehörten, erkannte das Rohe, Radikale im Schreiben der Sonderpädagogin aus dem Appenzell; entdeckt hatte ihr ausserordentliches Talent aber der Zürcher Verleger Egon Ammann.
Sie erforschte das Frauenleben mit grosser Neugier und Offenheit, gerade auch die Möglichkeiten der Liebe zwischen Frauen.
Den Bachmannpreis bekam zwar eine andere Schweizerin, Erica Pedretti, aber Helen Meier wurde mit einem Ernst-Willner-Stipendium ausgezeichnet. Im selben Jahr erschien bei Ammann der Erzählband «Trockenwiese», der mit Geschichten über Aussenseiter, von der Liebe und vom Leben Enttäuschte einen Ton anschlug, den man in der Schweizer Literatur so noch nicht gehört hatte. In ihrem Buch «Frauen schreiben die Schweiz» von 1998 fand Beatrice von Matt eine Beschreibung für das Besondere an Meiers Schreiben. Die Texte der Appenzellerin läsen sich als «harte Gegenveranstaltungen» zu den tastenden Sprachbewegungen, wie sie bei den «subtilen Sucherinnen» in der Schweizer Literatur, bei Gertrud Leutenegger oder Erica Pedretti, zu finden seien.
Meier machte sich keine Illusionen über die Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern und ging auch mit ihren weiblichen Figuren hart ins Gericht. Dabei erforschte sie das Frauenleben mit grosser Neugier und Offenheit, gerade auch die Möglichkeiten der Liebe zwischen Frauen.
Sperrig und virtuos zugleich
Ihr Auge fürs Detail kann etwas Verstörendes haben, wenn in einem Satz, einer Geste, einer Handlung alle Not und Sehnsucht ihrer Figuren zum Ausdruck kommt. Oft führt Helen Meier sie mit einem Satz ein, sperrig und virtuos zugleich, der sie fast physisch präsent werden lässt. «Konzert», eine Erzählung aus dem Band «Liebe Stimme» von 2000 beginnt so: «Lu, von mächtigem Seidenschal umschlungen, sass breit und tief hinter dem Steuer, imposant wie stets, grimmig-alte Königin, neben ihr sass Enrica, gross und gelb.» In solchen Vergegenwärtigungen glüht auch die Liebe zum Leben, diese fast rohe Vitalität, die durch Meiers Texte pulsiert.
Meiers literarische Sensibilität richtete sich ganz auf die einzelnen Individuen mit ihrer Sehnsucht nach Liebe, ihrer Euphorie, wenn sie einem anderen Menschen nahe kamen, und der Grausamkeit des Schmerzes, ohne den die Liebe nicht zu haben ist. Diese existentiellen Erfahrungen faltete sie in ihren Romanen und Erzählungen immer wieder neu auf. Im Zentrum steht der Wunsch nach dem Ausbrechen aus der vorgegebenen Rolle, nach einer Autonomie, die am Ende doch immer nur im Alleinsein möglich ist.
Mutig und eigenwillig waren bereits ihre ersten Texte
Im Schreiben aber wird Einsamkeit zur Souveränität: was in Helen Meiers Prosa auch in den dunkelsten Momenten leuchtet, ist der absolute Glaube an die Sprache. «Die Sprache scheint das Gehwerkzeug des Hirns zu sein», heisst es in ihrem Roman «Schlafwandel» von 2006. Nach «Schlafwandel» wurde es still um Helen Meier, bis sie 2014 unter dem Titel «Kleine Beweise der Freundschaft» einen Band mit Geschichten und Essays über das Alter vorlegte. Darin zeigte sie sich originell und zupackend wie eh und je, wenn sie über die letzte Lebensphase nachdenkt: «Lebensenergie, einst Seele genannt, versagt nicht. Sie ist. Sie ist, ob wir naiv an sie glauben oder ob wir weder an sie glauben noch von ihr wissen.» Das Werk Helen Meiers ist Beweis genug dafür.
Wie mutig, eigenwillig und kraftvoll bereits die ganz frühen Texte gestaltet sind, lässt sich dank des Engagements des Zürcher Literaturwissenschaftlers Charles Linsmayer nachlesen: 2016 erschien «Die Agonie des Schmetterlings», eine Sammlung früher Texte, und pünktlich zum 90. Geburtstag gab Linsmayer unter dem Titel «Der weisse Vogel, der Hut und die Prinzessin» 23 Märchen heraus, die vor mehr als einem halben Jahrhundert entstanden sind.
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